Dienstag, 7. Juli 2009

Leben.

Draußen ist es dunkel.
Nein, vielleicht wäre es dunkel. Wenn die Straßenlaternen nicht wären. Wenn die Lampen im Zimmer nicht wären.
Aber es ist Nacht. Ja. Nur die Sterne kann man nicht sehen.

Sie sitzt in einem Sessel und wartet.
Worauf?
Auf diesen einen Menschen – den einzigen Menschen, den sie in diesem Augenblick sehen will. Den einzigen. Ihn. Nur ihn.

Ihr Tod ist festgelegt. Der Zeitpunkt. Acht Uhr morgens. Jetzt ist es um neun, am Abend davor. Ihr Leben zieht mit jeder vertickenden Sekunde an ihr vorbei, aber sie wartet trotzdem nur.
Sie ist nicht krank. Aber sie hat beschlossen, zu sterben. Sie hat beschlossen, zu sterben, weil sie dann damit viele Menschen retten kann.
Und sie selbst hat eingewilligt, sich zum Tode zu verurteilen. Weil sie andere damit retten möchte.
Die Tabletten ruhen in einem durchsichtigen Plastikröhrchen in ihrer Hosentasche. Sie würde sie am liebsten herausholen und fortwerfen. Sie würde am liebsten rufen: Ich will nicht sterben! Ich werde nicht sterben!
Aber sie weiß, dass sie das nicht tun wird.

Der Zeiger auf der Uhr tickt immer weiter. Aber er kommt nicht.
Eine Nacht mit ihm war ihr Wunsch. Sie wollte nur eine Nacht lang allein mit ihm sein, und ungehindert mit ihm reden können. Wenigstens etwas, was sie nicht mit sich nehmen will. Wenigstens etwas, was sie noch tun wollte.
Sie sitzt im Sessel und wartet.
Im gleichen Zimmer sitzt ihre Mutter. Sie wird bei ihr bleiben, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Tabletten nehmen wird.
Sie wollte es so. Aber mittlerweile ist sie sich nicht mehr sicher, ob es auf diese Art wirklich weniger weh tut.
Sie will nicht gehen. Sie will nicht verschwinden. Sie will hier bleiben, und weiterhin diejenige sein, die sie ist.
Die Sekunden ticken. Die Zeiger rücken.
Irgendwann steht sie auf. Ihre Mutter wacht auf, sie hat gedöst.
„Wo gehst du hin?“, fragt sie und springt sofort auf.
Jede Sekunde, die verbleibt…
Jede Minute, die verstreicht…
… kann sie nicht mehr bei ihnen sein.
„Ich will zu Manu.“, murmelt sie. „Vielleicht.... ist er ja noch wach.“
Wenn er nicht weiß, wie sehr sie auf ihn wartet, dann kann er nicht kommen.
Also geht sie zu ihm. Sie will ihr restliches Leben nicht wegen Unentschlossenheit verplempern.
Sie will leben. Sie will es spüren. Sie will nicht warten.
Und irgendwie wartet sie doch.

Die Klingel schellt. Einmal, zweimal. Dann Schritte, und Manu macht ihr auf.
Er ist wirklich noch wach, und er sieht sie sehr überrascht an. Kein Wunder. Sie war vorher noch nie hier bei ihm. Sie hat vorher noch nie engeren Kontakt zu ihm gehabt. Nur ab und zu ein paar Worte gewechselt.
„Na, das ist ja eine Überraschung.“, sagt er. „Ist irgendetwas? Kann ich dir helfen?“
Ja!, will sie rufen. Halt mich davon ab, die Tabletten zu nehmen! Halt mich davon ab! Halt mich einfach fest und lass es nicht zu! Mach, dass die Seuche verschwindet! Mach, dass die Ärzte sich geirrt haben!
Sie zögert kurz. Drängt die Tränen zurück.
Kein Zögern mehr. Hat sie das etwa schon vergessen?
„Ich… ich war nur in der Nähe und wollte Hallo sagen.“, murmelt sie. „Entschuldigung, wenn ich störe.“
Manu schüttelt den Kopf. „Ach, überhaupt nicht! Willst du reinkommen?“
Nur kurz.
„Was zu trinken?“
Sie schüttelt den Kopf, aber überlegt es sich dann anders. „Nur Wasser.“
Solange sie es noch kann, will sie spüren, dass sie am Leben ist.

My heart awakes.
Rotten to the core,
Full of smoke.

Sie redet mit ihm. Aber nur Smalltalk. Sie sagt absolut nichts von dem, was sie so unbedingt sagen möchte. Absolut nichts davon.
Als sie an der Tür steht und er sie wieder verabschiedet, fasst sie sich ein Herz und umarmt ihn.
„Danke für alles.“, murmelt sie. „Und entschuldige.“
Er sieht verwirrt aus. Natürlich.
„Wofür?“, fragt er.
Sie kann nicht anders, sie muss lächeln. Die letzten Stunden ihres Lebens, und sie verbringt sie damit, die Menschen, die ihr am wichtigsten sind, anzulügen.
Ein Lächeln beruhigt.
„Ach, nichts.“, sagt sie nur. „Dann bis Samstag. Du kommst doch zum Konzert?“
„Ja, klar. Bis dann.“
Halb im Gehen ruft er sie noch einmal zurück.
„Wir sehen uns Samstag, oder?“
Sie nickt nur. Sie hat Angst, ihre Stimme könnte versagen, wenn sie jetzt redet.
Das letzte Mal, dass sie ihn sieht.
Und alles, was sie zustande bringt, ist eine freundschaftliche Umarmung.
Dennoch… seine Wärme spürt sie immer noch auf der Haut.
Prompt spürt sie den Kloß im Halse. Die Tränen in den Augen, die Verzweiflung, die sie schüttelt.
Sie will nicht sterben. Sie hat ihr ganzes Leben noch vor sich, und sie wird nie ein anderes bekommen. Sie hat nicht eines von all den Dingen erledigt, die sie so gerne tun wollte.
Ihre Geschichten werden nie beendet sein.
Ihre Gefühle werden den Menschen, die sie liebt, nie bekannt sein.
Ihr Leben wird hier auf der Erde niemals nennenswerte Spuren hinterlassen haben.
Sie wollte Bücher lesen.
Sie wollte die Welt kennenlernen.
Sie wollte lernen.
Mit einem Mal erscheint ihr die Prüfung, die sie bald geschrieben hätte, wie ein Klacks.

Farben ziehen an ihr vorbei. Gerüche. Sie sieht alle möglichen Ecken der Stadt, alle bei Nacht, erleuchtet.
Sie sieht das Leben hier pulsieren, und manchmal auch einfache Stille.
Ihre Mutter ist die ganze Zeit bei ihr. Sie hält sie bei der Hand, wie früher, als sie noch klein war.
Das wird nie mehr so sein.
Bald, denkt sie nur immer. Bald wird es anfangen zu wirken. Ich kann sie nicht alle anstecken. Ich will das nicht. Ich will sie nicht alle töten.
Und deshalb hat sie beschlossen zu sterben.
Ich will leben, verdammt! Warum kommt niemand? Warum hilft mir niemand? Warum kommt niemand und sagt mir, dass das alles einfach nur ein Riesenirrtum war?! Warum?!
Es ist ganz einfach. Nur zwei Tabletten schlucken.
Mehr nicht.

Cough.
Cough.
Cough.

Sie denkt an alle ihre Freunde.
Am Bahnhof, beim Umsteigen am frühen Morgen, sieht sie eine Freundin. Sie hat es eilig, ist auf dem Weg zur Schule, und ruft deshalb nur kurz und grinsend Hallo. Aber sie tut es so fröhlich. Sie hetzt, um noch rechtzeitig zu kommen. Sie schaut nicht nach links und rechts auf die kahlen Kachelwände.
Sie schaut ihr hinterher.
Sie will das auch sein. Sie will keine anderen Sorgen haben als Prüfungen.
Und es tut weh. Es tut weh, dieses fröhliche Gesicht zu sehen, dass nichts weiß. Nichts davon, was um acht Uhr morgens geschehen wird.
Niemand weiß etwas davon.
Nur sie, die Ärzte, ein paar andere.
Aber niemand ihrer Freunde.

Sie sitzt nun eine ganze Weile hier an der Haltestelle.
Leute hasten vorbei. Kinder plärren. Straßenbahnen fahren, Autos hupen, Fahrradfahrer klingeln.
Die Stadt lebt.
Sie kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, die ihr in diesem Moment über das Gesicht fließen, und kümmert sich nicht darum. Lehnt sich gegen die Schulter ihrer Mutter.
Sie weiß, dass es für sie auch schwer ist.
Sie nimmt das kleine Röhrchen aus ihrer Hosentasche und kippt die beiden kleinen Tabletten auf ihre Handfläche.
Einfach in den Mund nehmen und schlucken. Mehr nicht. Das ist alles.
Mehr nicht.
So einfach soll sterben sein?
Hier?
Ja. Hier. Nirgendwo sonst. Weil sie bis zum letzten Moment die Geräusche ihrer Stadt in sich aufnehmen will. Bis zum letzten Moment will sie die kühle Morgenluft spüren, will die Sonne auf ihrer Haut spüren und den Schatten.
Sonne. Leben.
Schatten. Tod.
Sie reibt die Tabletten zwischen den Fingerspitzen. Es ist bald acht Uhr.
Bitte, denkt sie. Bitte, Mama, schlag mir die Tabletten aus der Hand. Sag mir, ich soll das nicht tun. Beschütz mich. Es ist mir egal, was mit den anderen passiert, ich will leben.
Aber sie weiß genau, dass es ihr nicht egal ist.

It chokes.
Breaks apart.
That´s all it takes.

So einfach.
Sie denkt nicht mehr nach.
Sonne. Straßenbahn. Leben.
Sie nimmt das alles in sich auf, und ihr Kopf ist leer.
Hebt die Hand. Spürt die Tabletten auf der Zunge.

Sie sieht Manu auf sie zukommen. Er hat sie schon bemerkt und winkt ihr hektisch zu in dem Gewimmel. Kommt zu der Straßenbahnhaltestelle, wo sie sitzt.
Mama, denkt sie. Erklär es ihm, ich will nicht. Ich will das nicht sagen müssen.
Als er sich neben sie setzt, schluckt sie.

It´s gone.

„Guten Morgen.“, sagt er lächelnd.
Sein Lächeln, das sie immer so mochte. Sie schluchzt, und er macht ein bestürztes Gesicht, als sie sich gegen ihn lehnt und nur noch weint.
„Hey, was ist denn los? Was ist passiert?“
Sie klammert sich an seinen Arm. Sie spürt die Sonne auf der Haut nicht mehr. Sie hört die Leute nicht mehr. Die Autos nicht mehr.
Halt mich fest, denkt sie.

I´m gone.

Dann spürt sie nur noch, wie ihr Körper taub wird.

I´m dead.

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