Dienstag, 19. Mai 2009

Der Lauf des Lebens?

Sie liegt vor der Eingangstür, die zum Garten hinausführt.
Klein und zierlich. Die Fläche um ihren Schnabel herum ist noch gelb. Jung. Als er sie vorsichtig in die Hand nimmt und hochhebt, kann er ihr Gewicht kaum spüren. Nur die Federn sind noch weich.

Ein letzter Rest Wärme in ihrem kleinen Körper, nicht größer als der einer Feldmaus. Noch zartes Gefieder. Aber ihre Augen sind zusammengekniffen. Ihr Körper steif.
Eine kleine Meise, gerade erst flügge geworden, vielleicht auf ihrem ersten Flug unterwegs gewesen. Ein Fenster, dass diesen Ausflug nur allzu rasch beendet hat.
So klein, so zierlich, so zebrechlich. So traurig.

Als er zu dem großen Eibenbusch geht, sieht er sich um in dem großen Garten. Ein schöner Tag. Die Sonne scheint, es ist warm, ein laues Lüftchen weht. Samstag Vormittag, der größte Teil des Wochenendes liegt noch vor ihm. Eigentlich nur Gründe, glücklich zu sein. Die kommende Woche wird kurz sein, nur drei Tage Schule. Noch ein Grund zur Freude. Tiere sterben jeden Tag. Auch junge. Das ist der Lauf des Lebens.

All das Grün, all die Sonne, all das glückliche Gesumme um ihn herum kommt ihm künstlich vor. Falsch.

Nur eine kleine Meise. Ein Vogel, ein Tier. So was passiert ständig. Der Lauf des Lebens.
Aber ist das wirklich der Lauf des Lebens?

Es ist der Lauf des Lebens, wenn ein alter Mann stirbt. Er hatte sein Leben gelebt. Seine Zeit war abgelaufen. Der Lauf des Lebens. Aber nicht, wenn ein junger Mensch stirbt. Seine Zeit war nicht abgelaufen! Er hatte sein Leben gerade begonnen und angefangen, sich darauf zu freuen.
Wenn Seelen nach ihrem Tod noch weiterhin existieren, wird ein junger Mensch nie wissen, wie es ist, gelebt zu haben. Die Schule zu beenden, vielleicht auf die Uni zu gehen, jemanden heiraten, Karriere machen, Höhen und Tiefen.
Das wird er nie gehabt haben.

So, wie für diese kleine Meise ihr Leben an einem wunderschönen Tag zu Ende ging. Sie hat gesehen, wie es ist, zu fliegen. Sie hat gesehen, wie schön das Leben vielleicht sein kann. Und kaum durfte sie davon probieren, wird es ihr auch schon wieder weggenommen und weggesperrt. Der Schlüssel weggeworfen.

Unter dem Eibenbusch begräbt er die kleine Meise. Um ihn herum zwitschern die Vögel, die weiter leben können. Sein Meerschweinchen macht sich fröhlich quiekend über das frische Gras her, dass er ihr hingelegt hat. Ameisen wuseln. Tauben gurren. Der Wind weht.

Und er muss an die kleine Meise denken, dort in der dunklen, kalten Erde. Die Meise, die weiß, wie es ist, zu fliegen, und doch nie wieder fliegen wird.