Mittwoch, 23. Juli 2014

Serafin - Gerüchte aus einem Söldnerleben IX: 1. "I've never felt like this around anyone before. And it feels amazing and scary. You make me really happy."



 Für Serafin war es niemals leicht im Sommer. Sie kam mit der Hitze nicht gut zurecht, verkroch sich am Tag oft in dunkle, kühle Gassen, reiste nachts und erledigte ihre Geschäfte morgens und abends. Ihr Leben aber, so selbstbestimmt es auch sein mochte, war zu abhängig von anderen, und so musste sie oft durch die Mittagshitze laufen mit anderen Leuten um sich herum, die ebenso schwitzten. Sie suchte Arbeit, und es war weit und breit keine zu finden. Ihr Schwert auf den Rücken geschnallt, den Umhang zusammengerollt um ihr Bündel herum ebenfalls auf dem Rücken, nur das ärmellose, grob geschnürte Hemd aus Leinen am Oberkörper und die stabile Leinenhose mit den unzähligen Taschen. Sie mochte es, zu verbergen, dass sie eine Frau war – viele heuerten Frauen ungerne an. Im Sommer jedoch hätte das bedeutet, viel zu warm angezogen zu sein, und so ließ sie es bleiben. Selbst so – Serafin war schlank und flach, keine Kurven, hoch gewachsen. Viele hielten sie auf den ersten Blick immer noch bloß für einen jungen Mann, vielleicht den jüngsten Sohn einer Großfamilie, für den es im Erbe keinen Platz mehr gegeben hatte und der sich nun mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt.
Was gar nicht einmal so weit weg von der Wahrheit war.

Sie schob den Strohhut auf ihrem Kopf hinunter, kratzte sich unter dem groben Kopftuch, das ihre Haare zurückhielt, und schob den Hut wieder hoch. Es war warm, aber der einzige Schatten, den sie hier bekommen konnte, und Sonnenfieber kannte sie bereits zur Genüge. Die Luft so staubig, dass man die Staubschicht in Mund und Nase fast schmecken konnte, die Luft flirrend vor Hitze, und sie hatte kein Geld mehr. Hier, am Rand des Marktplatzes, wo die Händler und Reisenden ihre Karren abstellten, wo Reisende abfuhren und ankamen, da war fast immer Arbeit zu finden, egal, in welcher Stadt sie gerade war. Serafin verlangte für die Arbeit als Begleitschutz nicht viel, für die Arbeit als Handlanger noch weniger. Kam das Reiseziel des Händlers ihr entgegen, verlangte sie noch weniger. Lieber fünf Jobs für jeweils drei Kupfer als ein Job für ein Silber, dachte sie bei sich, dachte sie immer, aber auch das war heute nicht zu machen.

Die Luft war flirrend heiß, und Serafin ließ sich einfach in den Schatten unter der Akazie fallen, die die Mitte des Platzes überschattete, zusammen mit dem geschlossenen Brunnen. Sie schloss einfach müde die Augen und rieb sich träge übers Gesicht, alles zu hell und zu warm. Was bist du auch nicht früher in den Norden abgehauen, dachte sie schlecht gelaunt. Selbst schuld. Selbst ihre Lederrüstung trug sie lieber in ihrem Bündel herum, als sie anzulegen – sie war zwar gut geeignet, die Leute von Serafins Eignung als Karawanenwächter zu überzeugen, aber bei der glühenden Sonne wäre sie darunter einfach weggeschmolzen. Sogar die Pflastersteine brannten. Sie strich mit den Fingern über den rauen, rotbraunen Stein des Pflasters, schob dann ihren Strohhut vom Kopf, sodass der in ihrem Nacken hing, und zog sich das Kopftuch von den Haaren, um wenigstens für eine Weile ein bisschen Wind an sich heran zu lassen. Auch, wenn der Wind genauso warm war, er kühlte sie zumindest ein bisschen ab und trocknete die schweißnassen kurzen Haare. Sie gingen Serafin mittlerweile wieder bis unters Kinn, sodass das Kopftuch nötig war, wenn sie bei Wind noch etwas sehen wollte.

„Hallo.“

Sie blickte auf, überraschter, als sie es sich selbst gegenüber eingestehen wollte. Direkt vor ihr stand jemand, ohne dass sie ihn hatte kommen sehen. Eine Frau, mit vielen tausend Fältchen im Gesicht, Krähenfüßen an den Augen und einem Lächeln, das dem der Sonne Konkurrenz machte. Sie war tief gebräunt, die ledrige Haut von jemandem, der sein Leben lang der Sonne ausgesetzt gewesen war, und trug bunte Kleidung, mit bunten Schnüren und Holzperlen in den schwarzen, mit grauen Strähnen durchsetzten Haaren. Sie strahlte so viel Wärme und Licht aus mit ihrer farbenfrohen Kleidung und ihrem Lächeln, dass sie  der Sonne an diesem Tag Konkurrenz machte. Um ihre bloßen Knöchel klimperten mit Holzperlen geschmückte Messingkettchen.

Die Frau deutete auf das blutrote Stoffband, mit dem Serafins linker Unterarm umwickelt war. „Du bist eine Söldnerin, ja?“

Serafin seufzte leise. Frauen als Söldner waren selten, und viel zu oft wollten die Leute, die sie ansprachen, ihr keinen Job anbieten, sondern nur zweifelhafte Angebote unterbreiten. „Ja.“

Auf dem zerfurchten, sonnengegerbten Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, dem mehrere Zähne fehlten, aber selten hatte Serafin mehr Freude gesehen. „Wir haben Arbeit für dich.“

„Worum geht’s?“ Sie stand auf, jetzt fast einen halben Kopf größer als die Frau von den Libor Kah. Umherziehendes Spielmannsvolk. Serafin zweifelte nicht, dass diese Frau eine von ihnen war. Das Volk der Libor Kah war leicht zu erkennen – stets dunkel gebräunt von der Sonne, kräftiges, dickes schwarzes Haar, über das die Edelfrauen hinter vorgehaltenen Händen flüsterten, und hellen, grauen Augen. Diese Augen hatte nur das Volk der Libor Kah.

„Meine Familie und ich sind auf dem Weg nach Skraa.“

Serafin hob die Augenbrauen und folgte der Frau, als diese langsam zum Rand des Platzes schlenderte. „Direkt ins Nachbarland? Je nachdem, vor wem ihr auf der Flucht seid, steigt der Preis.“

Die Libor Kah nickte und lächelte nur und führte Serafin zu einem bunten Schaustellerwagen, um den andere Libor Kah herumstanden. Ein alter Mann, zwei fast gleich aussehende junge Männer, die mit Serafin auf Augenhöhe waren und so durchtrainiert, dass sie sich fragte, warum diese Familie noch zusätzliche Karawanenwächter anheuern musste. Ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, dürr und unruhig hinter ihren Brüdern tippelnd, und an der Hand eines sehr alten, gebeugten Mannes ein kleiner Junge.

„Deine Arbeit soll es sein, jemanden von uns zu beschützen.“

„Leibwache?“ Serafin runzelte die Stirn, Anspannung schlich sich hinein. „Ich hab keine Erfahrung mit Personenschutz. Bisher ging es immer nur um Fracht und Gepäck oder Auskundschaften der Route.“

Die Frau nickte, und Serafin konnte sehen, wie sich Missbilligung in die Augen der beiden jungen Männer schlich, aber keine Ablehnung. Sie hätte die Tatsache, dass sie niemals als Leibwache für jemanden fungiert hatte, für sich behalten können, aber sie hatte in diesem Job gelernt, dass Ehrlichkeit mit den Arbeitgebern meist am besten funktionierte.

„Aber dafür bist du eine Frau.“, sagte der alte Mann und lächelte Serafin ebenfalls an, sodass sie unwillkürlich die Arme verschränkte, wie um eine Barriere aufzubauen gegen die plötzliche Nähe, die diese Leute herzustellen versuchten. „Uns ist wohler, wenn wir eine Frau mit dieser Aufgabe betrauen können.“

Sie hob die Augenbrauen, aber die alte Libor Kah nickte nur den jungen Männern zu, und derjenige, der den kleinen goldenen Ohrring im linken Ohr trug, zog eine siebte Person hinter dem Wagen der Schausteller hervor, wo sie anscheinend verborgen im Schatten der Wagenplane gewartet hatte. In Lumpenkleidern und Kopf und Schultern von einem großen Tuch verborgen, dass sie sich umgeschlungen hatte. Serafin erkannte nur am Rock, dass es eine junge Frau war, ehe die alte Frau sie überraschend vorsichtig am Arm nahm und etwas näher zog, gleichzeitig leiser sprechend, sie und die vermummte Person wieder in den Schatten und Sichtschutz des Wagens ziehend.

„Auf sie sollst du aufpassen.“, sagte sie leise, und die Familie, selbst das kleine Mädchen, formten fast eine Art Schutzkreis um sie herum. Serafin konnte die Angst, entdeckt zu werden, aus jeder noch so kleinen Bewegung lesen. Diese Leute hatten große Angst, gefunden zu werden, und das hing mit der vermummten Gestalt zusammen.

„Was ist mit dir los? Was hast du zu verbergen?“, fragte sie offen heraus, und die vermummte Person zögerte. Zog langsam den Schal etwas herunter, sodass Serafin zumindest Augen und Nase sehen konnte, schließlich noch ein Stückchen herunter, bis kurz unters Kinn. Ein hübsches Gesicht. Eine junge Frau, voller Sommersprossen auf der blassen Haut, ohne die hellen Augen der Libor Kah, stattdessen die Augen ebenso warm und braun wie die Haarsträhne, die unter dem Schal hervorgerutscht war. Sie war wirklich hübsch. Keine Narben, keine merkwürdigen Zeichen auf der Haut, keine Muttermale. Nur die ungezählten Sommersprossen auf den schmalen Wangen und der Nase.

Nicht so wie Serafin, die ihre alte, rote Narbe quer über Nase und linke Wange trug. Trotzdem erkannte Serafin die junge Frau sofort.

„Du bist die, deren Plakate überall hängen. Die Gilde sucht wie verrückt nach dir.“ Neugierig musterte Serafin die junge Frau, erinnerte sich an die Bilder, die jede freie Fläche im ganzen Land zupflasterten. Gesucht wegen … wegen was eigentlich? „Ohne einen Grund anzugeben.“

Das Lächeln auf dem Gesicht der jungen Frau wurde zu einem entschlossenen Strich. Dünne, zusammengepresste Lippen und ein vehementes Kopfschütteln, das mehr Haarsträhnen unter dem Schal hervorrutschen ließ. Schulterlang, vielleicht länger, und so warm wie dunkles Holz im Sonnenschein. „Die suchen nicht mich.“, sagte sie. „Sie suchen jemand anderen, der genauso aussieht wie ich, aber nicht mich. Bloß kann ihnen das keiner klarmachen. Und wenn sie mich ausliefern – und glauben, ich sei die richtige – dann bin ich tot.“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte wieder etwas zerstreut, und Serafin sah sie lächeln und fast war es wie ein Sonnenstrahl.

„Lange Geschichte, tut mir Leid. Aber … ausführlicher kann ich sie dir nicht erzählen. Noch nicht. Wir müssen vorsichtig sein, entschuldige, aber jedenfalls ist das die Zusammenfassung.“

„Du sollst sie beschützen, bis wir außer Landes sind.“, sagte die alte Frau wieder, aber Serafin musterte weiterhin die junge Frau vor sich, vielleicht knapp einen Kopf kleiner als sie, geringfügig größer, und unter dem groben Kleid und dem Schal ziemlich schmal. Die blasse Haut verriet, dass sie das Leben auf der Straße nicht gewohnt war, allerdings trug sie auch keine Schuhe, wiederum genau wie die Libor Kah, ohne blutige Füße zu haben. Sie trug nicht die farbenfrohe Tracht mit Messingschmuck und Holzperlen, aber ihre Kleidung musste dennoch zumindest teilweise von ihnen geliehen sein. Sie bezeichneten das Mädchen als ihre Familie, aber eine Libor Kah war sie nicht.

„Wie alt bist du?“, fragte Serafin.

„Einundzwanzig.“

„Weißt du das auf den Tag und dein Geburtsjahr genau?“

„Ja.“ Verunsicherung schlich sich in ihre Stimme, aber Serafin wusste, dass sie zumindest die ersten Jahre bei einer guten Familie aufgewachsen sein musste. Wenig andere konnten ihren Geburtstag auf das Jahr genau nennen, geschweige denn den genauen Tag. Serafins zog jedes Jahr vorüber, ohne dass sie Notiz davon nahm – ihren Geburtstag hatte ihr niemals jemand mitgeteilt, und das Jahr hatte sie nur im Nachhinein feststellen können.

„Wie heißt du?“

„Marle.“ Das kam mit einem leichten Zögern, aber ohne den Blickkontakt zu Serafin zu unterbrechen, ohne vielleicht noch einen kurzen Blick zu der alten Frau neben Serafin zu werfen. Sie war ein Teil der Familie, aber sie war ihre eigene Herrin, sie schuldete keinem von ihnen Rechenschaft.

„Wer bist du, wenn du es nicht bist, die sie suchen?“

Jetzt fehlten ihr die Worte, aber das war, was Serafin gewollt hatte. Man lernte viel über Menschen, wenn man sie einfach mit den direkten Fragen konfrontierte.

„Ich habe nichts getan.“, sagte sie schließlich einfach nur, aber ihr Blick zu Serafin war fest und tiefgehend. Sie flehte nicht – sie versuchte nur, zu überzeugen. „Ich habe nur …“

Und da war es. Sie senkte den Blick, sie hob eine Hand, um sich damit im Nacken zu kratzen, den der Schal verdeckte, kratzte sich am Hals, den Blick überall, bloß nicht auf Serafin gerichtet. Serafin streckte die Hand nach ihr aus, wollte ihre Hand nehmen und sie vom Kratzen abhalten, aber Marle schrak so heftig zurück, dass sie bis zur Steinwand hinter sich zurückwich, die Arme abwehrend vor sich, die Augen aufgerissen. Serafin hielt inne, ließ langsam die Hand sinken.

„Entschuldige.“, sagte sie vorsichtig, lächelte. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte nur sehen, was mit dir los ist.“

Marle nickte nur langsam, kam wieder zu ihnen. Sie erinnerte Serafin an eine Katze, jederzeit auf dem Sprung, nur bereit, berührt zu werden, wenn sie vorher die Chance hatte, das zuzulassen. Angst davor, dass jemand sie in seinem Griff gefangen halten könnte.

„Schon gut.“

Sie blickte sich um, und der kleine Junge an der Hand des alten Mannes quengelte leise in der dichten Mauer, die die anderen Familienmitglieder bildeten, aber schnell hießen sie ihn, still zu sein, jeder von ihnen nervös und angespannt. Marle zog den Schal von ihrem Kopf, und auf dem blassen, schlanken Hals unter den zerwuschelten Haaren sah Serafin das Siegel.

Sie hätte es nicht erkannt, wären solche Siegel ihr nicht vertraut gewesen. Sie trat näher, langsamer diesmal, und auch wenn Marle sie nicht aus den Augen ließ, ließ sie zu, dass Serafin ihre Haare beiseite strich und sich das Siegel in ihrem Nacken, halb auf dem Rücken, näher ansah. Es reichte auf einer Seite bis zum Schlüsselbein, erkannte sie, als sie den Verlauf des Siegels nachfuhr. Schwarz wie Schatten, aber die Schwärze verschwamm. War brüchig an einigen Stellen, und dort war die Haut blutig gekratzt.

„Etwas ist versiegelt worden in dir.“, sagte sie leise, versuchte, das Siegel zu lesen, aber zu wenig wusste sie darüber. Sie wusste nur, was sie sich selbst in Büchern angelesen hatte, und dazu wurde zu viel über die Siegeltechnik von den Magiern der Gilde eifersüchtig unter Verschluss gehalten. „Aber das Siegel bricht. Siegel merkt man bis auf die Knochen, deshalb das viele Kratzen – hast du starke Schmerzen?“

Marle nickte nur, der Mund ein schmaler Strich, und Serafin wusste, sie musste stärkere Schmerzen haben, als sie anderen und sich selbst gegenüber eingestand. Brechende Siegel waren eine grässliche Angelegenheit.

„Bist du ein Mensch oder Magier?“

„Mensch.“

Serafin nickte, fragte nicht weiter nach. Sie wollten ihr nicht sagen, was versiegelt worden war, warum das Siegel brüchig war, aber um den Job annehmen zu können – auch wenn etwas in ihr flüsterte, dass sie das ohnehin musste; sie brauchte nur Marle sehen, schmales Gesicht, warme Augen und so stark, dieses Siegel zu ertragen – brauchte sie noch eine Information.

„Wenn dein Siegel zerstört ist, hat das Konsequenzen für dich oder für diejenigen um dich herum?“

Sie lächelte. „Nur für mich.“ Erst war Serafin verwirrt, runzelte die Stirn. „Es ist wirklich nur auf mich bezogen.“

Das Siegel bricht und was auch immer versiegelt sein sollte, wird sie umbringen, also warum zur Hölle lächelt sie?, fragte sich Serafin völlig verwirrt, aber sie stellte diese Frage zurück. Sie wusste, was wichtig war, und sie nickte Marle zu.

„In Ordnung. Ich nehm den Job.“

Marle lächelte, und nur für dieses Lächeln hätte Serafin alles gesagt, was sie hören wollte. Es traf sie so unvorbereitet wie ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht, und war Wärme. Wärmer und leuchtender als dieser Sommertag, und es ging Serafin so durch und durch, dass sie sich abrupt abwandte, der alten Frau zu, die ihr die Hand hinstreckte.

„Dann ist es eine Freude für uns, dich kennen zu lernen.“ Serafin ergriff die alte, faltige Hand, in der noch weit mehr Kraft streckte, als sie ihr zugetraut hätte, und traute sich nicht, sich wieder zu Marle umzudrehen – aus Angst, ihr Lächeln könnte wieder völlig unvorbereitet hinter die Barrieren fahren, die Serafin sich so sorgfältig um ihr Innerstes gebaut hatte. Das hier war Arbeit. Arbeit wie jede andere. Und eine Person zu beschützen anstelle von Fracht konnte so anders nicht sein.

„Ich bin Jasallha. Auch nur Sal, wenn es schnell gehen muss.“ Die anderen der Familie drehten sich zu ihnen um, als sie Jasallha hörten, und blickten Serafin mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Erleichterung an.

„Juha.“, sagte der alte Mann, „und Tibor.“, deutete er auf den kleinen Jungen, der sich an sein Bein klammerte. „Hali.“, der Händedruck des jungen Mannes mit dem linken goldenen Ohrring zerquetschte Serafin fast die Finger, aber sie stand ihm nicht im geringsten nach, seinen Bruder, „Kali.“, mit dem Ohrring auf der rechten Seite, übertraf sie sogar. „Shinai.“, sagte das kleine Mädchen mit trotzig vorgestrecktem Kinn und misstrauisch verengten Augen. „Und ich lass dich nicht aus den Augen. Wenn du Marle wehtust, musst du erst an mir vorbei.“

Fast musste Serafin lachen. „Sicher, dass du diesen Job nicht hättest machen sollen?“, fragte sie grinsend, und das kleine Mädchen sah sie nur umso strenger an. „Wir brauchen auch niemanden. Wir können alleine auf Marle aufpassen. Wir sind alle stark.“, sagte sie, packte Marles Hand, die sich wieder in ihr Tuch gewickelt hatte, und sah Serafin noch einmal nachdrücklich streng an. „Die anderen haben gesagt, wir brauchen jemanden. Aber das stimmt nicht.“

„Shinai, wir haben darüber geredet.“, sagte Jasallha, und in ihrer Stimme schwang Ende der Diskussion mit. „Du isst bei uns mit und richtest dich in allem, was Marle tut, nach ihr, es sei denn, du bist der Meinung, es bringt sie in Gefahr oder schadet ihr. Pass auf sie auf und beschütze sie mit deinem Leben. Du kannst schlafen, sobald du vorher für Marles Sicherheit gesorgt hast und entweder Hali oder Kali währenddessen auf sie achtgeben. Wenn jemand fragt, wofür du angeheuert wurdest, dann hast du dich uns nur als Schutz vor eventuellen Wegelagerern im Tausche für Essen und Unterkunft angeschlossen. Wenn jemand fragt, was unser Ziel ist, sind wir auf dem Weg zu den Feierlichkeiten im Feenwald, weil wir dort spielen wollen.“ Der Feenwald war nah an der Grenze zu Skraa, aber Serafin nickte übereinstimmend. Die Ausrede, sich auf dem Weg zum Mittsommernachtsfest zu befinden, war für Spielleute völlig plausibel. „Deine Bezahlung erhältst du jeden Tag bei Sonnenuntergang. Wir bezahlen dich tageweise, und jeweils nach getaner Arbeit. Wieviel verlangst du?“

Serafin kalkulierte. Das hier war ein Job mit vielen Risiken, sie konnte eine Menge Kupfer da rausholen. Andererseits hatten Jasallha und ihre Familie sie aus Sorge angeheuert, Sorge um Marle, und nicht, weil sie Kupfer zu verschenken hatten. Sie waren nicht bitterarm, die Kleidung war zwar geflickt, aber nicht ärmlich, aber Spielleute hatten niemals viel Geld. Ihr Wagen war gut gepflegt, aber alt, und die Farbe blätterte ab an den Stellen, an denen man es nicht sofort sah.

„Fünf Kupfer am Tag. Feststehend, keine Gefahrenzulage.“

Sie sah die überraschten Blicke der anderen, bevor sie sich, Schausteller, die sie waren, wieder in den Griff bekamen. Das war billig. Das war sehr billig, und es entsetzte Serafin selbst, wie wenig Geld sie hier verlangte, obwohl diese Menschen klar bereit gewesen wären, erheblich mehr zu bezahlen. Serafin hatte schon leichtere Jobs mit einem Silber am Tag gehabt, und selbst das war die untere Grenze gewesen. Fünf Kupfer waren fast schon misstrauenserregend billig, aber sie blieb dabei. Und sie sah die Erleichterung in Jasallhas Blick und die Überraschung in Shinais kleinem, schmalem Gesicht.

Sie nickte noch einmal und kramte ihren Vertrag aus einer der vielen schmalen Taschen ihrer Hose und an ihrem Gürtel hervor. Sie hatte immer mindestens fünf Expemplare vorbereitet, jeden davon auf Papier. Von Pergament ließ sich allzu leicht ohne Rückstände die Schrift abschaben und der Vertrag fälschen. Sie hob ihr Reisebündel vom Rücken, ging in die Hocke und kramte darin nach dem kleinen Tintenfässchen und Federkiel, hielt beides, der Federkiel schon arg zerfleddert, Marle entgegen.

„Du bist die Schutzperson, du unterschreibst.“, sagte sie ernst. „Erst darunter Jasallha. Den Vertrag behalte ich, ihr könnt ihn euch allerdings abschreiben, wenn ihr das möchtet, oder ich erstelle euch euer eigenes Exemplar. Ihr müsst nicht unterschreiben, es reicht auch irgendein Zeichen, das euren Namen eindeutig rüberbringt.“ Marle schrieb ihren Namen in feiner, eleganter Schrift, die Serafin erstaunte. „Und jetzt noch den Daumen – nein, den linken – hier auf das Tintenkissen legen, feste raufdrücken, dann auf den Vertrag. Sauberen Abdruck machen.“ Marle folgte ihren Anweisungen, und kritisch beäugte Serafin den Fingerabdruck. „Sauber genug. Jasallha?“

Jasallha schrieb ihren Namen so verschnörkelt, dass Serafin sich kaum vorstellen konnte, in dieser Schrift längere Texte lesen zu müssen, und hinterließ ebenfalls einen Daumenabdruck, auch wenn jedem von ihnen im Gesicht abzulesen war, dass sie nicht wussten, wofür das dienen sollte. Keiner allerdings fragte, und Serafin war nicht die vor Worten übersprudelnde Sorte. Sie kratzte etwas trockenen Staub vom Boden, blies ihn vorsichtig über die nasse Tinte, faltete den Vertrag schließlich mit einem Nicken wieder zusammen und wickelte ihn wieder in das Wachstuch. Preis und andere Details hatte sie selbst unter Jasallhas und Marles Blick in den Vertrag geschrieben.

„Gut, das wären die Formalitäten.“, sagte sie und hob ihr Bündel wieder auf den Rücken, als sie erst jetzt die Blicke der anderen auf sich spürte. „Was ist?“

„Dein Name.“ Jasallha lächelte. „Sagst du uns deinen Namen?“

„Ah. Entschuldigt. Vergess ich manchmal. Serafin.“

Shinai quietschte leise, und Serafin warf ihr einen bösen Blick zu, aber das kleine Mädchen wirkte ernsthaft begeistert. „So ein schöner Name!“, rief sie entzückt, „Serafin!“

Verärgert runzelte Serafin die Stirn und wollte gerade widersprechen, aber Marle war schneller.
 „Finn.“

Serafin blinzelte verwirrt. „Was?“

„Na, du brauchst einen Spitznamen. Alle nennen dich Serafin, also nennen wir dich Finn.“ Sie lächelte wieder, und Finn sah weg, fürchtete, dass man ihr die Freude darüber allzu deutlich im Gesicht ablesen konnte. Sie baute sich so sorgfältig ihre Mauern, hielt sie über Jahre intakt, und jetzt musste sie sich vor diesem einen Lächeln in Acht nehmen, wenn sie nicht alle Masken und Schutzschichten fallen lassen wollte! Das hier war Arbeit. Diese Leute betrachteten sich als Familie, und sie mochten auch eine Familie sein, aber Serafin hatte einen Job bekommen und ihre Arbeit zu erledigen. Sie war kein Teil dieser Familie, und sie brauchte auch niemanden von ihnen.

Sie machten sich auf den Weg, sichtlich erleichtert und froh, jemanden gefunden zu haben. Bis sie die Stadtmauern hinter sich gelassen hatten, fuhren Serafin und Marle im zweiten Wagen der Familie, den Hali lenkte mit Juha und Tibor neben sich auf der Bank. Ab da lief Serafin, und obwohl die anderen ihr auf der Bank Platz machten, ließ Marle sich nicht davon abbringen, neben Serafin zu laufen. Obwohl sie in ihrer unmittelbaren Nähe geblieben wäre. Sie gingen schweigend – nicht lange, aber währenddessen wiederholte Serafin das Wort in ihrem Kopf.

Finn.

Sie mochte den Klang. Sehr sogar.

Finn. Sie blinzelte irritiert, aber ein leichtes Zucken ihrer Mundwinkel verriet trotzdem, was für einen freudigen Hüpfer ihr Herz gemacht hatte und immer noch machte, als Marle sie Finn genannt hatte.  
Ein … mein Spitzname.

Samstag, 5. Juli 2014

Gedankenpaläste: Die Angst, die regiert



Der Mond spiegelte sich auf dem Teich, das Windspiel klimpert leise, und das warme Holz der Terrasse knarrt leise, als sie sich an den Rand setzt. Das Gras ist weicher zwischen den Zehen, als es echtes Gras jemals sein könnte.

„Manchmal vermisse ich es, verliebt zu sein.“, sagt Finn leise und blickt in den Sternenhimmel. „Ist zwar so auch schön, weil man niemandem außer sich selbst verpflichtet ist, aber … trotzdem.“

„Du bist doch verliebt.“, grinst Josie. Im japanischen Yukata liegt sie auf der Terasse, auf dem Bauch, das Kinn in die Hände gestützt, und wackelt mit den Füßen. „Muss ich dich immer wieder dran erinnern?“

Finn weiß, wen sie meint. „Und in wen?“, murrt sie zurück. „Du bist hier das Unterbewusstsein. Ich weiß nicht, was du alles weißt.“

„Erinnerst du dich denn nicht mehr an sie? Deine „beste Freundin“ in der Schule?“ Das Grinsen wird noch breiter, als Josie mit beiden Händen Anführungszeichen in die Luft malt. „Ihr wart immer nur beste Freunde. Aber eigentlich hast du sie geliebt. So, wie du sie immer angeschaut hast. Jedes Mal peinlichst darauf bedacht, nicht zu starren, dich nach jeder Minute mit ihr sehnend, neidisch auf die anderen Freundinnen.“

Finn spürt ihr Gesicht glühen, und ihr Kopf protestiert, während jedes einzelne Wort, das Josie spricht, doch die pure Wahrheit ist.

„Selbst, als sie mit den anderen über dich lästerte und nichts mehr mit dir zu tun haben wollte – angeblich nur aus dem Grund, das dein ewiges Fingernägelkauen eklig war! – selbst da warst du wütend und sauer auf sie und traurig, und trotzdem hast du sie zurückgesehnt. Trotzdem hast du sie beobachtet, während du vorgabst, sie zu ignorieren, um den Schmerz leichter zu machen. Du wolltest sie in den Arm nehmen. Dein Herz hat Freudensprünge gemacht, wenn sie dich zur Begrüßung umarmte, du warst im siebten Himmel, als sie sich tatsächlich einmal von dir Huckepack tragen ließ.“

Diesmal muss Finn lächeln. „Sie hat es immer gehasst, hochgehoben zu werden. Und dann hat sie mich gebeten, sie Huckepack zu tragen. Da hat sie mir vertraut.“

Josie lächelt und stützt den Kopf wieder in ihre Hände, während sie verträumt zum Sternenhimmel aufsieht. „Und die Nachmittage, wo sie keine Lust hatte, schon nach Hause zu fahren.“

„Wir sind geblieben, bis die Schule geschlossen wurde. Haben einfach herumgealbert.“, erinnert sich Finn, und Wärme breitet sich in ihr aus. „Sind auf den Tischen herumgelaufen und erst gegangen, wenn der Hausmeister uns rausgeworfen hat. Ich war spät zu Hause, der Tag vorbei, aber es war mir egal, weil ich ihn mit ihr verbringen konnte.“

„Und egal, wohin sie wollte –“

„- ich bin ihr überallhin gefolgt.“

„Ihr seid zusammen Drachenboot gefahren. Klassenfahrten.“

„Und ich war ihre beste Freundin. Ich war es, mit der sie das Zelt teilen wollte, keine der anderen.“

Josie grinst. Siehst du, denkt sie, da ist die alte Sehnsucht. Sie hat dich niemals losgelassen, Liebes.
 „Du hast es geliebt, wenn sie dich umarmt hat, nicht wahr?“

„Ja.“, antwortet Finn leise. „Wenn sie mich in ihrer Nähe sein ließ. Mir zeigte, dass ich ihr etwas bedeute, und sei es nur dadurch, dass sie mich anderen Freundinnen vorzug.“

„Und du sehnst dich immer noch nach ihr.“, sagt Josie, rollt sich auf den Rücken und streckt die Hand nach den Sternen aus. „Du suchst auf google nach ihr. Du suchst ihr Gesicht, wenn du in der Stadt bist. Du suchst nach anderen Freunden, die sie noch kennen könnten. Du hoffst, sie wiederzusehen, und du kannst nicht loslassen. So viel Sehnsucht, olle Finn.“

Finn beißt sich nur auf die Lippe, aber sie weiß es.

„Manchmal gehst du absichtlich einen Umweg über die Stadt. Gibst dir selbst vor, irgendetwas besorgen zu müssen, und gehst absichtlich langsam. Wirfst einen Blick in die Läden, in denen sie sich aufhalten könnte, weil du hoffst, ihr zufällig über den Weg zu laufen. Hast du denn vergessen, wie die Freundschaft damals auseinander gegangen ist, Finn?“

„Wir haben einfach aufgehört, miteinander zu reden.“, wispert Finn, der Blick in die Nacht gerichtet und doch völlig woanders. Sie hat niemals das geliebte Gesicht vergessen. „Ich hab gemerkt, wie wir uns entfernen, und es hat mir Angst gemacht. Ich hab versucht, sie festzuhalten.“

„Und je stärker du sie an dich ziehen wolltest, je verzweifelter du immer wieder bei ihr angerufen hast, während sie sich schon längst nicht mehr nach dir erkundigte, desto mehr entfernte sie sich von dir.“, wispert Josie. „Euer gemeinsamer Sushiabend. Du hast das Sushi zubereitet, sie hat sich vor deinen Laptop gesetzt und auf ICQ mit anderen Freunden geschrieben. Das hat sich in dein Herz gegraben, hm? Und der letzte Anruf. Du wolltest sie zu deinem Geburtstag einladen – da hattet ihr schon fast ein Jahr nicht mehr miteinander geredet. Sie dich zu ihrem Geburtstag bereits völlig ignoriert, aber du warst verzweifelt.“

„Ich hab sie vermisst.“, murmelt Finn und spürt, wie die alte Sehnsucht ganz und gar nicht alt ist, sondern noch so frisch und schmerzlich wie immer, wie am ersten Tag. „Und ich hatte Angst, weil ich wusste, dass ich sie verloren hab.“

„Einfach eine Freundschaft, die sich auseinander gelebt hat.“, lächelt Josie, streckt eine Hand nach Finn aus und streicht ihr durch die Haare. „Jedenfalls für eine von euch. Für dich hat das nie aufgehört. Du hast immer versucht, dich zu überreden, dass es halt vorbei ist, auseinander gelebt, passiert, man vergisst sich irgendwann. Sei ehrlich, Finn – gab es seitdem auch nur einen Tag, an dem du nicht an sie gedacht hast?“

Darüber muss Finn nicht einmal nachdenken. Selbst die Tage, an denen sie krank im Bett gelegen hat, selbst Tage, an denen Prüfungsstress sie vereinnahmt, selbst fröhliche, ausgefüllte Tage – „Nein.“, wispert sie.

„Und du suchst ihr Gesicht, wann immer du durch die Straßen läufst. Du hast sogar einmal eine alte gemeinsame Freundin von euch getroffen, aber selbst die konnte dir nur ein paar Infos geben. Weißt du, Finn, wenn du dir Mühe geben würdest – du weißt, in welchem Club die gute alte Jessie öfters ist. Wenn du dahingehen würdest, irgendwann würdest du ihr bestimmt über den Weg laufen. Jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit. Du könntest sie einfach danach fragen, nach einer Emailadresse, einem facebook-Profil, irgendeinem Anhaltspunkt. In deinem Inneren weißt du doch, dass sie dir ziemlich sicher weiterhelfen könnte. Warum gehst du  nicht einfach?“

Und Finn schweigt. Schweigt so lange, dass Josie aufsteht, sich neben Finn setzt und sie in den Arm nimmt. Gesegnet seien Gedankenpaläste – die einzigen Orte, wo das eigene Unterbewusstsein das Bewusstsein umarmen kann. Und mit ihm argumentieren.

„Weil du Angst hast.“, wispert Finns Unterbewusstsein. „Angst, dass ihr noch unterschiedlicher geworden seid. Angst, dass es das Mädchen, das du immer noch so verzweifelt liebst, dass du der vagen Chance wegen sie zu sehen, Umwege läufst, nicht mehr gibt. Dass sie sich so verändert hat, dass du ein Mädchen liebst, das nur noch Erinnerung ist. Oder, noch schlimmer – das sie auch jetzt nur Distanz zu dir aufbaut. Dass sie dich gar nicht wiedersehen will und es unheimlich findet, welche Mühen du auf dich nehmen würdest, um sie zu finden. Du hast Angst, Finn, solche Angst. Du verliebst dich in andere, erst Henning, dann Ole. Aber tief innen, die wahre Liebe, die, die dich glühen und brennen lässt, das ist dieses Mädchen.“

Finn schweigt, und im Gedankenpalast weht ein warmer Wind in einer sternenklaren Sommernacht, und das Windspiel klimpert.

„Aber was soll ich denn machen?“, wispert sie, während in ihr die Sehnsucht brennt. „Was soll ich denn machen?“

„Wenn du nicht ewig damit leben willst? Springen. Über deinen Schatten springen und sie wirklich suchen. Such diese Freundin, Finn. Frag sie. Gib nicht nach. Ihre Eltern wohnen bestimmt noch da, wo sie früher wohnte – sag, du willst ein Klassentreffen organisieren. Irgendwas. Wenn dich die Verzweiflung überwältigt, Finn, gibt es immer einen Weg. Oder willst du ewig so leben, mit dieser Sehnsucht im Herzen und einem Aber was, wenn nicht?“

Finn schweigt. Und obwohl es nur eine Antwort gibt, regiert die Angst in ihr.