Montag, 29. Juli 2013

Serafin - Gerüchte aus einem Söldnerleben VIII: General Ticktack



Serafin mit den drei Narben auf der Brust, wo einst drei Pfeile steckten, Finn mit der Werwolfsnarbe auf der Schulter und dem Werwolfsblut, weil die Magier vergaßen, sie vor der Heilung zu reinigen und bereits angerichteter Schaden nicht mehr gutzumachen war. Serafin, Finn, Janni, sie hat viele Namen, aber der liebste Name ist ihr Finn. Er ist ihr der liebste Name, weil ihre Freunde sie Finn rufen. Die Elbenprinzessin ruft sie Finn, selbst wenn mittlerweile, nach etwas, was sich wie eine Ewigkeit gemeinsamer Reisen anfühlt, Schlossmauern, Wachen und viele, viele Meilen zwischen ihnen liegen. Jene der Plänkler, zu denen Finn einmal im Jahr stößt, um zu kämpfen, zu helfen und viel, viel Kupfer zu verdienen, rufen sie Finn. Wer sie nicht kennen darf, ruft sie Janni. Wer ihren offiziellen Namen möchte und jedwede Autorität besitzt, ihn fordern zu dürfen, ruft sie Serafin Keilin. Und wer ihr Freund ist und sie liebt, egal auf welche Art, der ruft sie Finn.

Ihre Plänklerfreunde rufen sie Finn, deshalb kämpft sie mit ihnen. Gerne. Sie würde mit ihnen sterben. Sie rufen sie immer noch Finn, nachdem sie von der ganzen Werfwolfgeschichte erfahren, und auch, wenn sie gelegentlich ihre Silbermünzen herauskramen, um sie damit zu ärgern, so achten sie auch auf Finn. Halten sie auch von Silber fern und warnen andere, Silber doch bitte von ihr fernzuhalten. Sie machen Scherze, aber sie beschützen sie und rufen sie weiterhin Finn.

General Ticktack ruft sie Finn.

Finn weiß, sein Herz ist krank und kaputt, und sie weiß, dass Metall es schlagen lässt. Als sie eines langen, langen Abends zusammensitzen und zusammen trinken, als der Alkohol ihm die Zunge löst, da erzählt er ihr viel, und Finn hört aufmerksam zu. Sie hört immer zu, wenn Leute erzählen, sie beobachtet ihre Mimik und ihre Gestik und unterbricht sie nicht, weil sie auf diese Art so viel mehr als nur die ausgesprochenen Worte erfährt. General Ticktack sieht niemanden an, sieht zu Boden, wenn er spricht, als würde er sich seiner selbst schämen.

„Ich frage mich oft, ob ich überhaupt noch ein Mensch bin, mit diesem künstlichen Ding in der Brust.“, sagt er ihr, blickt weg, blickt zu Boden. „Tag und Nacht höre ich dieses Ticken, habe es immer im Ohr, und ich kann ihm nicht entkommen, wie sehr es mich auch stört, wie sehr ich es auch hasse, weil das Ticken aus mir selbst kommt.“

Er heißt nicht General Ticktack, aber manche, die ihn kennen, nennen ihn so. Selten, damit er nicht in Momenten, in denen das Ticken von etwas anderem übertönt, daran erinnert wird. Er hat einen Namen, und Finn weiß, dass er Familie und Frau hat, zu denen er immer wieder zurückkehrt. Sie selbst mag heimatlos umherziehen, doch er hat ein Heim, das ihn ruft. Wenn sie nach dieser Zusammenkunft, diesen wenigen Tagen, in denen sie Seite an Seite bei den Plänklern kämpfen, auseinander gehen, weiß Finn, dass er zu Familie und geliebter Frau zurückkehrt. Es macht ihr nichts aus, sagt sie sich selbst, auch wenn ein kleiner Stachel bleibt, wenn sie Erzählungen von seiner Familie lauscht und das Strahlen in seinen Augen sieht. Aber es macht ihr wirklich nichts aus. Es beruhigt sie.

Eines Abends, nach langen Stunden des Lagerfeuers, des Trinkens und des Erzählens und einer Müdigkeit in Finns Knochen, dass sie kaum noch denken kann, lässt er sie bei sich im Lager, wo sie ohnehin sind, übernachten. Sie muss dafür nur zwei Schritte weiter zur Seite kriechen und sich fallen lassen, wird von ihm mit seinem Umhang und zwei Decken zugedeckt, während er nur unter ihren Umhang kriecht, er überlässt ihr die volle Entscheidung, ob sie bleiben möchte oder nicht, und fast hat sie das Gefühl, dass er sich freut, nicht alleine zu sein. Es ist, nachdem er ihr vom Ticken erzählt hat und von den Selbstzweifeln, von seiner Überzeugung, ein schlechter Mensch zu sein, und deshalb will sie ihn nicht alleine in der Nacht lassen. Sie liegt neben ihm in der stillsten, ruhigsten Nacht, die sie seit langem hat, schon fast eingeschlafen, aber noch so viel auf der Seele, was sie ihm sagen möchte.

„Ein Mensch definiert sich nicht dadurch, wie viel Metall sich in seinem Körper befindet. Ein Mensch ist, wer so denkt wie ein Mensch, wer Mitleid und Güte zeigen und Gefühle haben kann.“, sagt sie zu ihm, als ihm die Worte zu fehlen, sich zu viele traurige Gedanken in seinem Kopf zu stauen scheinen. „Du kannst von dir halten, was auch immer du tust, aber niemand beurteilt dich. Niemand, dem du wichtig bist, redet schlecht von dir. Du bist ein herzensguter Mensch und einer der besten, der freundlichsten, der gütigsten, der mir in all den Jahren begegnete. Wenn du Fehler machst, dann hasst dich niemand, sondern erklärt dir, wie es richtig funktioniert. Wenn jemand absichtlich Dinge über dich erzählt, die du vergessen möchtest, und nicht damit aufhört, wenn du ihn bittest, dann mache dich los von dieser Person, denn sie hat dich nicht verdient. Wenn du Fehler machst, ist das nicht schön. Aber erinnere dich dann immer daran, was schlimmer wäre. Fehler kann man ausbügeln, fast alle Fehler. Aber wenn jemand stirbt, du jemanden Wichtigen verlierst, das ist endgültig. Wenn du morgen stirbst, ist das endgültig. Wenn du etwas Neues tust, was du nicht gewohnt bist, und dich die Angst lähmt, dann tu es einfach, ohne nachzudenken. Du kannst dich wissen, ob es nicht vielleicht doch klappt. Geht es schief, dann wirst du es wieder gutmachen, irgendwie. Hab keine Angst. Strebe nach den schönen Dingen, strebe nach Glück. Beim Würfeln verlierst du ein paar Mal, verlierst eine Menge Geld – und dann, in der letzten Runde, gewinnst du plötzlich, und du gewinnst die dreifache Menge von dem, was du verloren hast. Wenn du auf die Nase fällst, steh auf und versuche es wieder, dann kannst du gewinnen. Fällst du wieder auf die Nase, hat sich auch nichts geändert, nichts ist schlimmer geworden, aber wenn du nicht aufstehst, dann hast du die Möglichkeit, voranzugehen, von vornherein vertan.“

Und General Ticktack sieht sie an mit feuchten Augen.

„Ich weiß, alles ist leichter gesagt, als es dann getan ist.“, sagt sie. „Ich kenne es, Angst vor neuen Dingen zu haben. Angst vor Versagen ist normal. Aber denke nicht darüber nach. Versuche immer wieder, dich daran zu erinnern, und eines Tages wird es normal sein.“

„Danke.“, wispert General Ticktack.

Sie liegt neben ihm in der Stille, in der Finsternis der Nacht, in der sie ihn nicht alleine lassen wollte mit seinen finsteren Gedanken, und sie würde am liebsten seine Hand nehmen. Sich an seine Schulter legen. Ihm über den Kopf streichen. Sie weiß, dass keine Gefahr besteht, dass er das falsch auslegt, weil er seine Frau hat. Sie weiß, dass sie von ihm niemals etwas wird befürchten müssen, niemals einen Bruch dieser Freundschaft wegen Annäherungsversuchen, derer sie sich erwehren muss, befürchten muss, weil er seine Frau hat. Das ist, was sie so unendlich daran beruhigt und es ihr erlaubt, sich ihm zu öffnen. Dennoch traut sie sich nicht, ihm näher zu kommen als einige Handbreit, selbst mit all den Decken und Umhängen und der Versicherung, dass diese Freundschaft niemals in Gefahr sein wird. Sie traut sich fast nie.

Aber in der finsteren Nacht, als sie  nach ihrem Mut sucht und nach richtigen Worte, um ihn zu überzeugen, dass er ein wunderbarer Mensch ist, da hört sie das leise Ticken.

(Ticketacketicketacketicketacketicketacke)

Fein und leise wie das einer filigranen Uhr. Sie lauscht in der stillsten, ruhigsten, erholsamsten Nacht, die seit langem, langem hatte, dem feinen, gleichmäßigen Ticken.

„Hörst du es?“, fragt General Ticktack neben ihr, und Finn murmelt ein leises, verschlafenes Ja.

„Stört es dich?“, fragt General Ticktack.

„Es ist beruhigend.“, sagt Finn und sagt damit alles, was sie sagen kann über das Metall in seiner Brust und die Tatsache, dass er es nicht hassen muss, dass ihr nichts egaler sein könnte, weil sie ihn kennen gelernt hat und weiß, dass er, Metall oder nicht, mit mehr Gewicht oder nicht, mit mehr Selbstzweifeln oder nicht, ein wunderbarer, geliebter Mensch ist.

„Beruhigend?“, fragt General Ticktack, und Finn nickt in der Finsternis.

„So gleichmäßig und leise und fein. Ich weiß dann, dass du lebst. Dass alles mit dir in Ordnung ist und dass du hier bist, dass du noch lebst.“

Wenn dieses Metall nicht wäre, hätte ich dich dann überhaupt je getroffen?, denkt Finn und ist nicht in der Lage, ihm das zu sagen. Wärest du dann nicht schon lange tot? Habe ich nicht jeden Grund, dieses Metall dafür zu lieben, dass es dich am Leben und hier behält?, denkt Finn und kann es nicht aussprechen, will die Hand nach ihm ausstrecken und ihn berühren, weil das ebenso beruhigend ist, will ihm sagen, dass er ein Mensch ist, ein wunderbarer Mensch.

„Es ist beruhigend.“, murmelt sie, fast schlafend, so müde, so schrecklich müde, und lauscht dem gleichmäßigen, feinen Ticken, das ihn jeden Herzschlag weiter am Leben hält. „Wie Licht in der Nacht, um einem kleinen Kind zu zeigen, dass alles in Ordnung ist.“

Mehr kann sie nicht sagen. Sie bringt nicht die Kraft auf, ihn zu berühren, zieht stattdessen seinen Umhang fester um ihre Schultern. „Beruhigend.“, wispert sie, und lauscht dem Ticken, und schläft. Die ruhigste Nacht seit so langer Zeit.