Montag, 2. November 2009

Laura

Lauras Seite auf dem Klavier war schon vor langer Zeit verstimmt worden.

Ihre Kindheit war fehlerlos. Perfekt.
Zu perfekt.

Ihre Eltern stritten niemals. Sie wurde geliebt, von ihnen, sie wurde immer gut behandelt. Sie lachten immer. Immer.
Als ob sie Theater spielen würden.

„Mama? Papa? Warum lacht ihr immer? Gibt es denn nichts, was euch traurig macht?“

Von einem Moment auf den andern war das Theaterstück vorbei.

„Was glaubst du eigentlich, für wen wir das hier machen?! Was glaubst du eigentlich, für wen wir uns fast aufgeben? Und du bist so ein undankbares Balg!“

Der Vorhang war gefallen.

Ab dann verkehrte Lauras Leben sich in das komplette Gegenteil. Sie machten nichts mehr zusammen. Ihr Vater war so oft weg. Ihre Mutter sah sie kaum mehr an, und ansonsten schrie sie. Sie gab Laura die Schuld für alles, was sie traurig machte.

Laura rannte davon. Tagelang ging sie auf der Straße von Stadt zu Stadt, ihre Füße schmerzten und bluteten. Irgendwann nicht mehr. Irgendwann waren ihre Schuhe zerfallen und ihre Fußsohlen fast so dick wie Leder geworden, sodass sie die Schmerzen nicht mehr spürte.

In Ilassar hatte sie Aica kennen gelernt.

Sie wurden beim Stehlen erwischt und haben sich in eine Gasse geflüchtet. Der Regen fällt, und sie schmiegen sich zusammen. Es ist eine Sackgasse, und sie können nur warten, bis die Leute, die sie suchen, verschwinden.

„Schon gut.“, flüstert Aica. „Es wird uns nichts passieren.“

Laura ist jünger als sie, einige Jahre, soweit sie das einschätzen kann, und blass und schwächlich. Das Leben auf der Straße ist sehr schwer für sie. Zu schwer, denkt Aica manchmal und hat Angst um die einzige Freundin.

Jetzt laufen Laura die Tränen über das stille Gesicht.
Nein. Sie ist nicht für die Straße gemacht.

„Uns kann nichts passieren.“, flüstert Aica. „Weil ich nämlich eine Zauberin bin.“

Es scheint, als würden die Tränen fast versiegen. Laura sieht sie an, staunend – und zweifelnd.

„Eine Zauberin?“

„Eine richtige.“

„Und was kannst du machen?“

Aicas Blick schweift umher und erhascht zufällig eine Münze. Einen Eisenpenny, den anscheinend jemand verloren hat. Vielleicht auch ein Dieb, der verjagt wurde und dem die Münze hier aus der Hand fiel.

Es ist wie Ironie des Schicksals, dass sie das Geld ausgerechnet jetzt und hier findet.

„Zaubern.“

Der Penny liegt in ihrer Reichweite, und Aica lässt ihn hochschweben, hebt ihn hoch, unsichtbar für alle, und hält ihn Laura hin.

Das Mädchen greift staunend danach, versucht zu ertasten, womit sie ihn hochgehoben hat. Aber sie kann es nicht greifen.

„Wow!“, ruft sie leise. „Du bist eine echte Zauberin!“

Nicht so laut, denkt Aica. Mach, dass sie uns nicht hören!

„Da sind sie!“

Die Stimme klingt wie ein altes, rostiges Reibeisen. Unangenehm. Aica lässt sie den kalten Schweiß am Rücken herunter laufen.

Mit ihren Äxten in den Händen kommen die Männer in die Gasse. Nichts zum Ausweichen. Der Fackelschein ergreift die beiden Mädchen, und Laura schlingt ihre Arme um Aica. Mit einem Schubser will Aica die andere von sich fort stoßen, damit sie eine Chance zur Flucht erhält.

Aber Laura ist schneller.

Sie stößt Aica beiseite, und eine scharfe Klinge trennt sauber ihren Kopf ab. Das Blut spritzt auf Aica.
Die Männer verprügeln sie, sodass sie danach reglos in der Gasse liegt. Alleine. Die Männer haben die Mädchenleiche mitgenommen. Aica kann nicht einmal daran denken. Sie denkt an gar nichts. Nur an die Schmerzen in ihrem Körper.

Lauras Seite auf dem Klavier war schon vor langer Zeit verstimmt worden.



Ein kleiner Oneshot zu "Remember" (="Black Lapislazuli" - ich hab den Titel geändert, weil mir der Neue passender erschien). Dazu, was Aica (die Hauptfigur) vor Beginn der Haupthandlung erlebte, wen sie traf, und wen sie verlor.