Sonntag, 16. Februar 2014

fire in the wind



„Ich hab ihn gefunden.“, sagte Kvothe leise und überrascht, und ohne darauf zu achten, ob Sam und Janne ihm folgten, lief er einfach los. Janne fluchte leise und rannte hinter ihm her. „Kvothe!“, rief sie. „Warte!“
Kvothe blieb stehen, in einer menschenleeren Gasse, über seinem Kopf Wäscheleinen zwischen den engen Häusern gespannt. Janne kam es vor, als könnte sie ebenfalls den Wind wispern hören, aber sie folgte Kvothe in die Gassen Venedigs, und Sam ließ beide nicht aus den Augen. Sie folgten Kvothe durch enge Gassen, wo nur über ihnen ein Streifen bleigrauen Himmels schwebte, über schmale Steinbrücken, unter denen tintenschwarzes Wasser floss, undurchdringbar für jeden Blick, so sehr Janne sich auch bemühte, etwas darin zu erkennen, folgten Kvothe tiefer in Venedig hinein, wo der Wind kaum mehr war als ein Hauch, und auf breitere Straßen, wo links und rechts geöffnete Läden warmes Öllampenlicht und Gerüche nach frischem Backwerk, nach Kaffee und Schokolade verbreiteten. Jannes Magen knurrte, und sie sah Sams hageres Gesicht und Kvothes schmale Miene an. Sie alle drei waren zerlumpt und ausgezehrt, Kvothe der einzige, der ein paar Münzen besaß – Münzen, die nicht für mehr als ein müdes Lächeln reichten. Als Kvothe auf einem großen, mit kahlen Bäumen gesäumten Platz anhielt, dort stand und den Kopf schieflegte, auf den Wind horchte, der hier nur schwach wehte, trank Janne klares Wasser aus einem Brunnen, Sam ebenfalls, und dann lief Kvothe schon weiter.
„Es riecht nach Asche und Funken.“, wisperte er, mehr zu sich selbst als zu irgendjemandem sonst.
„Kvothe lauscht fast die ganze Zeit dem Wind.“, sagte Janne leise zu Sam, während sie über uralte Pflastersteine liefen. „Selbst, wenn der Wind ihm so mühelos gehorcht, wie ihr alle denkt – kostet ihn das nicht trotzdem eine Unmenge an Kraft?“
Sam antwortete ihr nicht darauf, aber er ließ Kvothe nicht aus den Augen und Janne sah die ewige Sorge in dem stillen, ernsten Gesicht.
Die Straßen, über die Kvothe sie führte, wurden breiter, mehr Geschäfte, mehr Leute, die Straßen voller. Sie überquerten eine Brücke, die auf beiden Seiten von geschlossenen Läden gesäumt war, und erreichten nach einer schmalen Gasse einen riesigen Platz. Eben noch zwischen Mauern so dicht, dass Janne die Arme nicht hätte ausstrecken können, und dann vor einer Kirche, wie sie so eine riesige, so prunkvolle niemals gesehen hatte. Säulen und Marmor, feinste stilisierte Bilder, über und über goldgeschmückt – erst stand Janne nur da und fragte sich, wie so etwas im Sonnenschein aussehen mochte. Dann sah sie den Feuerspucker.
Wenn sie später jemandem von Silva erzählte, dann würde sie auf ewig an diesen Moment denken, unter bleigrauem Himmel in einer Stadt voller Gold, Wasser, Geistern und Geisterlichtern. „Der Mann, der das Feuer atmet.“, würden ihre Worte sein, wann immer sie von Silva sprach.
Sie lief in Kvothe hinein und ließ ihn nach vorne stolpern, als sie so zu dem Feuerspucker hinüber starrte, dass sie völlig übersah, wie Kvothe stehen geblieben war.
„Das ist er.“, sagte er und deutete auf den Mann, der mit nacktem Oberkörper, in sicherem Abstand von fast allen Leuten umringt, die sich auf diesem Platz befanden, den grauen Wintertag mit in den Bleihimmel gespeitem Feuer erhellte.
„Er atmete das Feuer wie ein Drache.“, würde Janne erzählen. „Wie Kvothe dem Wind lauschte und mit ihm flüsterte, den Wind anbrüllen konnte, als wäre er selbst der Sturm, so atmete Silva das Feuer. Sein Gesang klang wie das Knistern der Flammen, erst das Brüllen eines Flammeninfernos, dann das sanfte Glühen einer kleinen Kerze. Er war nicht wie Kvothe, aber er konnte das Feuer rufen, und wenn Feuer erst einmal da ist und kleine Flammen gehegt werden, dann kann es trotzdem Länder zerstören.“
„Bei den Feuersängern ist das mit dem Feuer etwas anders als bei den meisten Sängern. Sie werden mit dem Feuer in sich geboren, sie atmen es, sie müssen sich beherrschen, es nicht zu schüren, anstatt sich anzustrengen wie die anderen Sänger. Sie rufen es nicht, sie halten es zurück. Sie beherrschen sich pausenlos, lassen nur kleine Flammen schlagen, weil sie ihre Umgebung nicht in Brand setzen wollen.“
Bei diesen Worten wird Kvothes Blick weit, weit in die Ferne gleiten, und Janne wird denken So ist es bei ihm auch. Es ist nicht anstrengend, zu singen, sondern ein so natürlicher Vorgang wie Atmen. Sie werden süchtig davon, und in ihnen tobt ein Sturm oder lodert ein Feuer, dass sie tief in sich drin behalten müssen, wenn sie nicht verletzen und zerstören wollen. Sie wird Schmerz in Kvothes Gesicht sehen – und bitterste, tiefste Sehnsucht. Der Ausdruck eines eingesperrten Tieres.
„Ein Feuermagier.“, fragte Janne leise und spürte kaum, wie Sam neben sie und Kvothe trat.
„Wir sollten warten, bis er fertig ist und sich die Leute wieder zerstreut haben.“, sagte Sam leise, und müde ließ Janne sich auf die Steinstufen vor dem langen, hohen Arkadengang eines Gebäudes sinken, das wie ein Palast einen Teil des Platzes umfasste. Sam ging irgendwohin und kam mit einem klebrigen, warmen Gebäckstück wieder, dass er in zwei Teile brach und Janne das eine, Kvothe das andere in die Hände drückte.
„Was ist mit dir?“, fragte Kvothe, obwohl er in seinen Augen den gleichen Hunger sah, der auch ihm den Magen zernagte. Sam schüttelte nur den Kopf.
„Ihr habt es nötiger.“, sagte er. „Ich besorge später noch was.“ Unser Geld ist doch alle, dachte Janne. „Janne braucht das Essen dringender und du erschöpfst dich, indem du fast pausenlos mit dem Wind flüsterst.“
Kvothe hatte den Anstand, auch nur ein wenig schuldbewusst dreinzusehen, brach von seinem Gebäckstück aber trotzdem etwas ab und reichte es Sam. „Du brauchst es auch. Danke.“
Wortlos nahm Sam es und setzte sich neben die beiden, doch als Janne ihm auch etwas von ihrem Anteil geben wollte, schob er ihre Hand sanft, aber bestimmt zurück. „Danke, Janne. Aber du brauchst es dringender.“
Sie beobachteten den Feuerspucker eine Weile wortlos, der sie nicht bemerkte, und Janne glaubte fast, ab und an bei einem besonders hohen Feuerball die Wärme des Feuers auf der Haut spüren zu können. Fast hypnotisch war es, das glühende Feuer zu beobachten, das der Mann mit dem verzottelten, schmutzigen strohblonden Haaren aus dem Nichts rief, und sie spürte, wie die Müdigkeit in ihren Knochen sie übermannte, sie immer schläfriger wurde, die Augenlider immer schwerer. Irgendwann lehnte sie einfach den Kopf gegen Kvothes Schulter schloss die  Augen für einen Moment … nur für einen Moment.
Vorsichtig drehte Kvothe den Kopf und sah Janne an, dann rüber zu Sam. „Wir sollten, bevor wir irgendetwas anderes unternehmen, erst irgendwie Geld verdienen und dann eine Unterkunft finden.“
Sam nickte, zog seinen Umhang etwas mehr so zurecht, dass das Schwert auf seinem Rücken verdeckt wurde. Je unauffälliger und harmloser sie aussahen, desto besser, und Kvothe mit seinen feuerroten Haaren war schon selbst wie eine wandelnde Fackel. Dafür war die dichte Wolkendecke gut – sie erlaubte es ihm, die Kapuze aufzusetzen und damit nicht noch auffälliger zu wirken.
„Wie lange bist du schon TotenRitter, Sam?“, fragte Kvothe den Mann, der ihnen Geheimnisse seines Ordens verraten hatte und über den sie absolut nichts wussten. Nein, keine Geheimnisse, korrigierte er sich in Gedanken, jedenfalls nicht die Details. Die hat er dem Reverend verschwiegen, und uns bisher auch.
Es war eine einfache Frage, aber Sam überlegte trotzdem lange. „Seit ich vierundzwanzig war.“, antwortete er schließlich.
„Warum wird man TotenRitter?“
Auch jetzt überlegte Sam wieder, blickte dann zu Janne. „Als Kote Janne gefunden hat und mit ihr floh, da floh eine Freundin von ihr mit ihnen, die in ihrem Haushalt gearbeitet hatte. Sie war zwanzig, viel älter als Janne, ihr eine große Schwester gewesen, und sie weigerte sich, Janne im Stich zu lassen. Als wir die beiden fanden, weigerte sie sich, nun ihre Verantwortung abzutreten, und ließ sich zur Ritterin ausbilden. Sie wollte ebenfalls TotenRitter werden, und das hätte sie geschafft. Sie war nur eine junge Frau, ohne einen besonders kräftigen Körper oder hohe Ausdauer. Trotzdem hätte sie es geschafft. Weil sie entschlossen war, Janne zu beschützen.“
Sam blickte Kvothe in die Augen, sein heller, klarer, grauer Blick so ernst wie immer. „Es geht darum, ob du etwas beschützen willst. Beschützen.
Lächelnd strich Kvothe der schlafenden Janne über die Haare und zog ihren abgewetzten Umhang etwas enger um sie, sah ihr müdes, überschattetes Gesicht an. Noch ein Mädchen und schon mehr Last auf den Schultern, als irgendjemand sie tragen sollte. „Diese Freundin von ihr …“
„Ihr Name war Sintel.“
Kvothe blickte Sam an und sah, dass Sintel damals  auch unter den Opfern gewesen war. „Tut mir Leid.“, sagte er leise, aber Sam erwiderte nichts.
„Wie hast du damals überlebt?“, fragte er, leise und unsicher, ob Sam ihm die Frage übel nehmen würde, aber der antwortete ganz normal.
„Ragnar hat beschlossen, einen am Leben zu lassen – mich am Leben zu lassen. Nicht, weil er Informationen wollte; die hätte er sofort genommen, aber dann hätte er nicht mich gewählt. Er wusste, dass er mich nie zum Reden bringen würde, aber er brauchte ein Exempel. Jemanden, den er in all den Hetzkampagnen gegen Aum, in all dem Hass, den er gegen uns in der Bevölkerung schürte, als Sündenbock hinstellen konnte, damit die Leute ein Gesicht bekamen. Wer war da besser als der Oberste? Jemand, der in die Geheimnisse eingeweiht und an allen Entscheidungen beteiligt war – aber niemand, an den man Magier oder gar Kreast verschwenden musste. Einfache Fesseln genügen.“
Sam klang bitter, die Stirn gerunzelt und Wut in der Stimme, und Kvothe begriff, dass Sam auf sich selbst wütend war. Wütend, dass er nichts hatte tun können – und vielleicht auch wütend, dass er nur ein Mensch war. Wütend, dass er nichts unternehmen konnte, als Ragnar alle abschlachtete, die Sam zu beschützen geschworen hatte.
„Diese Schwerter …“, Kvothe beobachtete Sam genau, versuchte, in dem kantigen, harten Gesicht zu lesen. „Was macht die so besonders? Warum will Ragnar die haben, und warum kannst du mit ihnen Ragnars Unverletzlichkeit bekämpfen? Was sind das für Schwerter?“
Noch während er diese Frage stellte, wusste Kvothe, dass Sam nicht antworten würde. „Die Runenkrankheit, von der viele Magier befallen werden.“, sagte Sam und blickte Kvothe an, um zu sehen, ob der wusste, wovon er sprach. Kvothe nickte vorsichtig. „Damit hängt es zusammen. Die Details sollte Janne auch hören und vor allem nicht hier. Das sind Dinge, die niemand hören sollte, außer euch. Nicht einmal alle Magier und TotenRitter wussten davon – nur wenige. Sehr, sehr wenige. Und erst recht niemand, der nicht Teil von Aum war.“
Aber Aum gibt es nicht mehr, dachte Kvothe. Fort. Eure Regeln gibt es nicht mehr, und du bist der Einzige, der entscheiden kann, was ein Geheimnis ist.
Der Feuerspucker beendete seine Aufführung mit einem besonders spektakulären Feuerball, in dem Drachen sich wanden und selbst Feuer spien, über die Köpfe der Zuschauer hinweg. „Lass sie schlafen.“, sagte Sam leise und nahm Janne vorsichtig auf den Rücken. Sie warteten geduldig, bis der Feuerspucker die wenigen Münzen, die die Leute ihm geben mochten, eingesammelt hatte, und noch ein wenig länger, bis sie sich zerstreuten, und gingen zu ihm. Noch außer Hörweite hob er den Kopf, sah sich um und sah sie – erst nur oberflächlich, runzelte dann die Stirn und winkte ihnen zu.
Kvothe, wisperte der Mann und lächelte, wohl wissend, dass sein über die Entfernung zu leise gewispertes Wort durch den Wind in Kvothes Ohren gelangte. Hallo.