Samstag, 5. Juli 2014

Gedankenpaläste: Die Angst, die regiert



Der Mond spiegelte sich auf dem Teich, das Windspiel klimpert leise, und das warme Holz der Terrasse knarrt leise, als sie sich an den Rand setzt. Das Gras ist weicher zwischen den Zehen, als es echtes Gras jemals sein könnte.

„Manchmal vermisse ich es, verliebt zu sein.“, sagt Finn leise und blickt in den Sternenhimmel. „Ist zwar so auch schön, weil man niemandem außer sich selbst verpflichtet ist, aber … trotzdem.“

„Du bist doch verliebt.“, grinst Josie. Im japanischen Yukata liegt sie auf der Terasse, auf dem Bauch, das Kinn in die Hände gestützt, und wackelt mit den Füßen. „Muss ich dich immer wieder dran erinnern?“

Finn weiß, wen sie meint. „Und in wen?“, murrt sie zurück. „Du bist hier das Unterbewusstsein. Ich weiß nicht, was du alles weißt.“

„Erinnerst du dich denn nicht mehr an sie? Deine „beste Freundin“ in der Schule?“ Das Grinsen wird noch breiter, als Josie mit beiden Händen Anführungszeichen in die Luft malt. „Ihr wart immer nur beste Freunde. Aber eigentlich hast du sie geliebt. So, wie du sie immer angeschaut hast. Jedes Mal peinlichst darauf bedacht, nicht zu starren, dich nach jeder Minute mit ihr sehnend, neidisch auf die anderen Freundinnen.“

Finn spürt ihr Gesicht glühen, und ihr Kopf protestiert, während jedes einzelne Wort, das Josie spricht, doch die pure Wahrheit ist.

„Selbst, als sie mit den anderen über dich lästerte und nichts mehr mit dir zu tun haben wollte – angeblich nur aus dem Grund, das dein ewiges Fingernägelkauen eklig war! – selbst da warst du wütend und sauer auf sie und traurig, und trotzdem hast du sie zurückgesehnt. Trotzdem hast du sie beobachtet, während du vorgabst, sie zu ignorieren, um den Schmerz leichter zu machen. Du wolltest sie in den Arm nehmen. Dein Herz hat Freudensprünge gemacht, wenn sie dich zur Begrüßung umarmte, du warst im siebten Himmel, als sie sich tatsächlich einmal von dir Huckepack tragen ließ.“

Diesmal muss Finn lächeln. „Sie hat es immer gehasst, hochgehoben zu werden. Und dann hat sie mich gebeten, sie Huckepack zu tragen. Da hat sie mir vertraut.“

Josie lächelt und stützt den Kopf wieder in ihre Hände, während sie verträumt zum Sternenhimmel aufsieht. „Und die Nachmittage, wo sie keine Lust hatte, schon nach Hause zu fahren.“

„Wir sind geblieben, bis die Schule geschlossen wurde. Haben einfach herumgealbert.“, erinnert sich Finn, und Wärme breitet sich in ihr aus. „Sind auf den Tischen herumgelaufen und erst gegangen, wenn der Hausmeister uns rausgeworfen hat. Ich war spät zu Hause, der Tag vorbei, aber es war mir egal, weil ich ihn mit ihr verbringen konnte.“

„Und egal, wohin sie wollte –“

„- ich bin ihr überallhin gefolgt.“

„Ihr seid zusammen Drachenboot gefahren. Klassenfahrten.“

„Und ich war ihre beste Freundin. Ich war es, mit der sie das Zelt teilen wollte, keine der anderen.“

Josie grinst. Siehst du, denkt sie, da ist die alte Sehnsucht. Sie hat dich niemals losgelassen, Liebes.
 „Du hast es geliebt, wenn sie dich umarmt hat, nicht wahr?“

„Ja.“, antwortet Finn leise. „Wenn sie mich in ihrer Nähe sein ließ. Mir zeigte, dass ich ihr etwas bedeute, und sei es nur dadurch, dass sie mich anderen Freundinnen vorzug.“

„Und du sehnst dich immer noch nach ihr.“, sagt Josie, rollt sich auf den Rücken und streckt die Hand nach den Sternen aus. „Du suchst auf google nach ihr. Du suchst ihr Gesicht, wenn du in der Stadt bist. Du suchst nach anderen Freunden, die sie noch kennen könnten. Du hoffst, sie wiederzusehen, und du kannst nicht loslassen. So viel Sehnsucht, olle Finn.“

Finn beißt sich nur auf die Lippe, aber sie weiß es.

„Manchmal gehst du absichtlich einen Umweg über die Stadt. Gibst dir selbst vor, irgendetwas besorgen zu müssen, und gehst absichtlich langsam. Wirfst einen Blick in die Läden, in denen sie sich aufhalten könnte, weil du hoffst, ihr zufällig über den Weg zu laufen. Hast du denn vergessen, wie die Freundschaft damals auseinander gegangen ist, Finn?“

„Wir haben einfach aufgehört, miteinander zu reden.“, wispert Finn, der Blick in die Nacht gerichtet und doch völlig woanders. Sie hat niemals das geliebte Gesicht vergessen. „Ich hab gemerkt, wie wir uns entfernen, und es hat mir Angst gemacht. Ich hab versucht, sie festzuhalten.“

„Und je stärker du sie an dich ziehen wolltest, je verzweifelter du immer wieder bei ihr angerufen hast, während sie sich schon längst nicht mehr nach dir erkundigte, desto mehr entfernte sie sich von dir.“, wispert Josie. „Euer gemeinsamer Sushiabend. Du hast das Sushi zubereitet, sie hat sich vor deinen Laptop gesetzt und auf ICQ mit anderen Freunden geschrieben. Das hat sich in dein Herz gegraben, hm? Und der letzte Anruf. Du wolltest sie zu deinem Geburtstag einladen – da hattet ihr schon fast ein Jahr nicht mehr miteinander geredet. Sie dich zu ihrem Geburtstag bereits völlig ignoriert, aber du warst verzweifelt.“

„Ich hab sie vermisst.“, murmelt Finn und spürt, wie die alte Sehnsucht ganz und gar nicht alt ist, sondern noch so frisch und schmerzlich wie immer, wie am ersten Tag. „Und ich hatte Angst, weil ich wusste, dass ich sie verloren hab.“

„Einfach eine Freundschaft, die sich auseinander gelebt hat.“, lächelt Josie, streckt eine Hand nach Finn aus und streicht ihr durch die Haare. „Jedenfalls für eine von euch. Für dich hat das nie aufgehört. Du hast immer versucht, dich zu überreden, dass es halt vorbei ist, auseinander gelebt, passiert, man vergisst sich irgendwann. Sei ehrlich, Finn – gab es seitdem auch nur einen Tag, an dem du nicht an sie gedacht hast?“

Darüber muss Finn nicht einmal nachdenken. Selbst die Tage, an denen sie krank im Bett gelegen hat, selbst Tage, an denen Prüfungsstress sie vereinnahmt, selbst fröhliche, ausgefüllte Tage – „Nein.“, wispert sie.

„Und du suchst ihr Gesicht, wann immer du durch die Straßen läufst. Du hast sogar einmal eine alte gemeinsame Freundin von euch getroffen, aber selbst die konnte dir nur ein paar Infos geben. Weißt du, Finn, wenn du dir Mühe geben würdest – du weißt, in welchem Club die gute alte Jessie öfters ist. Wenn du dahingehen würdest, irgendwann würdest du ihr bestimmt über den Weg laufen. Jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit. Du könntest sie einfach danach fragen, nach einer Emailadresse, einem facebook-Profil, irgendeinem Anhaltspunkt. In deinem Inneren weißt du doch, dass sie dir ziemlich sicher weiterhelfen könnte. Warum gehst du  nicht einfach?“

Und Finn schweigt. Schweigt so lange, dass Josie aufsteht, sich neben Finn setzt und sie in den Arm nimmt. Gesegnet seien Gedankenpaläste – die einzigen Orte, wo das eigene Unterbewusstsein das Bewusstsein umarmen kann. Und mit ihm argumentieren.

„Weil du Angst hast.“, wispert Finns Unterbewusstsein. „Angst, dass ihr noch unterschiedlicher geworden seid. Angst, dass es das Mädchen, das du immer noch so verzweifelt liebst, dass du der vagen Chance wegen sie zu sehen, Umwege läufst, nicht mehr gibt. Dass sie sich so verändert hat, dass du ein Mädchen liebst, das nur noch Erinnerung ist. Oder, noch schlimmer – das sie auch jetzt nur Distanz zu dir aufbaut. Dass sie dich gar nicht wiedersehen will und es unheimlich findet, welche Mühen du auf dich nehmen würdest, um sie zu finden. Du hast Angst, Finn, solche Angst. Du verliebst dich in andere, erst Henning, dann Ole. Aber tief innen, die wahre Liebe, die, die dich glühen und brennen lässt, das ist dieses Mädchen.“

Finn schweigt, und im Gedankenpalast weht ein warmer Wind in einer sternenklaren Sommernacht, und das Windspiel klimpert.

„Aber was soll ich denn machen?“, wispert sie, während in ihr die Sehnsucht brennt. „Was soll ich denn machen?“

„Wenn du nicht ewig damit leben willst? Springen. Über deinen Schatten springen und sie wirklich suchen. Such diese Freundin, Finn. Frag sie. Gib nicht nach. Ihre Eltern wohnen bestimmt noch da, wo sie früher wohnte – sag, du willst ein Klassentreffen organisieren. Irgendwas. Wenn dich die Verzweiflung überwältigt, Finn, gibt es immer einen Weg. Oder willst du ewig so leben, mit dieser Sehnsucht im Herzen und einem Aber was, wenn nicht?“

Finn schweigt. Und obwohl es nur eine Antwort gibt, regiert die Angst in ihr.

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