Montag, 14. März 2011

Gott würfelt

You wake up, watch the world go ‘round

+++ 07.26 Uhr Erste Wellen treffen auf die Küste +++

Du hörst es das erste Mal im Radio, während der Fahrschule, denkst an alte Tsunamis und zuckst mit den Schultern. Es ist nicht der erste Tsunami, und es wird nicht der letzte sein. Er wird vielleicht ein paar unachtsame Tiere mitreißen. Wie groß ist er eigentlich? Sie sagen es nicht in der kurzen Radiomitteilung, und du achtest nicht sonderlich darauf. So funktioniert die Welt. Hier passiert was, da passiert was, es wird verkündet, und die Welt geht weiter.

You shiver, feeling upside down. Your heart is beating fast, pumping blood to your head, another day to fight.

Diese Welt ist nicht unsere, auch wenn wir es uns gerne einreden; wir beherrschen sie nicht, auch wenn wir vielleicht ein paar Dinge verstehen; und noch weniger sind wir ihrer Herr. Sie braucht es nur lange genug regnen zu lassen, das reicht schon. Wir leben auf einem Planeten mit 12.700 Kilometern im Durchmesser, 4,6 Milliarden Jahre alt, während die Menschheit gerade mal seit ein paar tausend Jahren kreucht und fleucht, und das auf einer annähernd krustigen Schicht, die gerade mal 50 bis 100 Kilometer dick ist, zerbrochen wie ein Puzzle. Und diese Puzzleteile reiben sich aneinander wie Eisschollen oder wie die Fahrgäste im Bus zur Hauptverkehrszeit, wenn nicht einmal die Türen mehr zugehen.
Von den umgebenden Schichten gar nicht zu reden: Wir leben auf einem heißen Kern von bis zu 5000°C, ähnlich wie auf den dunklen Flecken der Sonne (die kritische Temperatur der Kernschmelze in Atomkraftwerken beträgt ca. 2200°C), mit einem monströsen Druck von fast 4 Millionen Bar. Unsere dünnen Schollen schwimmen auf flüssigen Magma, während wir hier oben leben und uns aufregen, wenn es ein bisschen wackelt.

Ich glaube nicht, dass Kate Winslet sich auf ihrer Tür über jede kleine Erschütterung aufregen würde. Immerhin schwimmt die Tür ja trotzdem weiter, und damit dürfte sie bereits glücklicher als manch anderer sein.

+++ 08.07 Uhr Stromausfall in Tokio +++
Nach dem Beben sind vier Millionen Menschen im Großraum Tokio von Stromausfall betroffen, meldet Kyodo.

+++ 08.11 Uhr Zehn-Meter-Welle trifft Sendai +++
Ein Zehn-Meter-Tsunami trifft den Hafen von Sendai im Norden, berichtet die Agentur Kyodo. Die westjapanische Präfektur Wakayama fordere rund 20.000 Menschen auf, sich in Sicherheit zu bringen.

+++ 08.30 Uhr Taiwan warnt vor Flutwelle +++
Die taiwanischen Behörden geben nach dem Beben in Japan eine Tsunami-Warnung für die Nord- und Ostküste heraus.

+++ 08.36 Uhr Nachbeben +++
Ein starkes Nachbeben erschüttert den Norden Japans.

+++ 08.36 Uhr Indonesien warnt vor Tsunami +++
Indonesien gibt eine Tsunami-Warnung heraus.

+++ 08.53 Uhr Mehrere Brände in Tokio +++
In der Hauptstadt Tokio sind an 14 Orten Feuer ausgebrochen. Das meldet die Agentur Kyodo.

+++ 09.36 Uhr Tsunami-Warnung für gesamten Pazifik +++
Es wird eine Tsunami-Warnung für fast die gesamte Pazifik-Region ausgegeben. Ausgenommen sind lediglich die Westküsten der USA und Kanadas, wie das Tsunami-Warnzentrum für den Pazifik mitteilte. Die Warnung gilt unter anderem für folgende Länder: Russland, Taiwan, die Philippinen, Indonesien, Papua Neuguinea, Australien, Neuseeland, Fidschi, Mexiko, Guatemala, El Salvador, Costa Rica, Nicaragua, Panama, Honduras, Chile, Ecuador, Kolumbien und Peru.

+++ 09.20 Uhr Alle Häfen dicht +++
Nach Angaben von Reedern sind alle Häfen in Japan geschlossen worden.

+++ 09.46 Uhr Mindestens zehn Tote +++
Bei dem Beben sind der Agentur Jiji zufolge mehr als zehn Menschen getötet worden. Der Sender NHK berichtet von einem weiteren starken Nachbeben im Norden.

+++ 09.54 Uhr Serie von Nachbeben +++
Insgesamt 18 Nachbeben sind nach amerikanischen Medienberichten nach dem schweren Erdbeben der Stärke 8,9 in Japan registriert worden.

You have a prayer on your lips under the desert sun

Aber trotzdem vergessen wir immer wieder, wie klein wir sind, und alles, was wir nicht verhindern können, ruft uns das wieder ins Gedächtnis. Jedes Mal, wenn uns nichts anderes bleibt, als zu beten, an einen Gott, den es nicht gibt, denn die Natur funktioniert von alleine.

You remember every word that your father said: „Stay out of trouble son, and be true to yourself. You’ll be working like a dog, raise a family, and life will be alright.”

+++ 10.53 Uhr Tsunami richtet schwere Verwüstungen an +++
Das japanische Fernsehen zeigt Bilder furchtbarer Verwüstungen. Aus der Provinz Iwate waren bei dem Sender NHK Straßenzüge mit eingestürzten Häusern zu sehen. An der Küste treiben Flutwellen Trümmer und zerstörte Häuser vor sich her. In der Hauptstadt Tokio sind die Telefonnetze seit Stunden überlastet, auf den Straßen bilden sich Kilometer lange Staus, an den Bahnhöfen Massen an gestrandeten Pendlern. Viele Bürger tragen Sicherheitshelme aus Angst vor herabstürzenden Gegenständen.

Stimmt schon, wir ackern wie die Hunde, und für was? Für ein hübsches Leben. Denn all die Autos, all die Banken, all die Supermärkte, all die ausgetüftelten Straßensysteme, all die Gesetze werden eines Tages doch verschwinden. Wir können nichts verändern. Wir sind nicht groß genug dazu. Wir können in unseren Köpfen etwas verändern, aber dem Universum wird es immer egal sein, ob es uns gibt oder nicht.

But now it’s written in the stars if you’ll make it out alive

+++ 22.41 Japan lässt Druck von Atomreaktor ab +++
Die japanische Regierung hat sich entschlossen, in dem vom Erdbeben beschädigten Reaktor Fukushima-Daiichi Druck abzulassen. Das teilt die Internationale Atomenergiebehörde IAEA mit. Es sei unwahrscheinlich, dass in solch einer Situation keinerlei Radioaktivität freigesetzt wird.

+++ 22.48 Eilmeldung: Radioaktivität in AKW "tausendfach erhöht" +++
Die Nachrichtenagentur AFP meldet unter Berufung auf die japanische Agentur Kyodo: Radioaktivität in AKW in Erdbebengebiet tausendfach erhöht.

+++ 6.07 Immer mehr Todesopfer +++
Die japanischen Behörden erhöhen ihre Zahlen zu Opfern und Vermissten. Nach vorläufigen Angaben der Polizei gibt es fast 1400 Todesopfer und Vermisste. Mindestens 613 Menschen starben demnach in den verschiedenen vom Erdbeben und Tsunami betroffenen Regionen im Norden und Osten Japans. 784 Menschen wurden als vermisst gemeldet, die Zahl der Verletzten gibt die Polizei mit 1128 an. Mehr als 215.000 Menschen fanden Zuflucht in Notunterkünften.

The good die young, there might be no tomorrow. In god we trust, through all this pain and sorrow.

Und wir beten. Wir beten zu einem Gott, den es nicht gibt. Und wenn man mal annimmt, dass es ihn gibt: Welchen Sinn hat das Beten dann? Der Tod ist immer sinnlos, ist blinder Zufall, so hart es klingt.
Gott würfelt.

+++ 9.14 Schäden am Reaktorgebäude +++
Fernsehbilder eines japanischen TV-Senders deuten darauf hin, dass bei der Explosion im Atomkraftwerk Fukushima 1 die Außenhülle des Reaktors abgesprengt worden ist.

It was a quiet day on the streets of hope, when the bomb went off at the side of the road.

Und ob die Sonne scheint oder nicht, den Würfeln ist das egal.

Sounds of breaking steel

Den Würfeln ist es egal, ob besiedelt oder unbesiedelt, ob indonesisches Fischerdorf oder L.A.

An windshield full of blood

Und im Nachhinein sammeln wir die Leichen ein und haben doch wieder nichts gelernt. Im Nachhinein wird ein wenig betroffenes Schweigen herrschen. Wir erinnern uns an den elften September?

„Dieser Tag hat die Welt verändert!“

„Nichts wird je wieder sein, wie es war!“

Kann mir irgendjemand sagen, was speziell sich nach dem 11. September verändert hat?
Japan hängt zu 40% an Atomreaktoren. Glaubt jemand ernsthaft, dass sie nun alle ihre Atomreaktoren für immer und ewig abschalten werden? Tschernobyl war nicht der erste Super-GAU und wird auch nicht der Letzte sein.

It feels like in a movie scenes are passing by
It’s your life


+++ 13.53 Regierungssprecher korrigiert sich zu Kernschmelze +++
Ein japanischer Regierungssprecher nimmt seine eigenen Aussagen über eine Kernschmelze im erdbebenbeschädigten Kraftwerk Fukushima 1 zurück. Yukio Edano sagt, es habe im Reaktor 3 keine Kernschmelze stattgefunden. Radioaktive Strahlungswerte im Kraftwerk überschritten zwar die zugelassenen Werte, es bestehe jedoch keine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung.
Lachen wir auch alle schön? Politiker, die erst das eine behaupten und dann alles zurücknehmen, nachdem die Politikerkollegen sie daran erinnerten, dass es meist die Überbringer der Katastrophennachrichten waren, die früher geköpft wurden?

+++ 13.55 Kernschmelze droht in drei Reaktoren +++
Im japanischen Atomkraftwerk Fukushima 1 droht nach Angaben der Behörden eine Kernschmelze in drei Reaktoren. Das sagt Regierungssprecher Yukio Edano der Nachrichtenagentur Kyodo zufolge. Im Reaktorblock 2 ist nach früheren Angaben möglicherweise bereits ein Teil des radioaktiven Kerns geschmolzen.

And now it’s written in the stars if you make it out alive.

Denn Gott würfelt.

Wir schreiben die Zahlen auf, die er würfelt, aber wir rechnen sie nicht zusammen.

Das ist das noch Traurigere als all diese Toten, die mit ein wenig mehr Verantwortungsbewusstsein hätten vermieden werden können. Ihr Blut klebt an den Händen von all jenen, die sich jemals dafür aussprachen, in Japan, der Erdbebenzone schlechthin, Atomkraftwerke zu bauen und munter zu behaupten, sie hätten alles im Griff.

In Kursiv: The Scorpions - The Good die young"

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