Für Serafin war es niemals leicht
im Sommer. Sie kam mit der Hitze nicht gut zurecht, verkroch sich am Tag oft in
dunkle, kühle Gassen, reiste nachts und erledigte ihre Geschäfte morgens und
abends. Ihr Leben aber, so selbstbestimmt es auch sein mochte, war zu abhängig
von anderen, und so musste sie oft durch die Mittagshitze laufen mit anderen
Leuten um sich herum, die ebenso schwitzten. Sie suchte Arbeit, und es war weit
und breit keine zu finden. Ihr Schwert auf den Rücken geschnallt, den Umhang
zusammengerollt um ihr Bündel herum ebenfalls auf dem Rücken, nur das ärmellose,
grob geschnürte Hemd aus Leinen am Oberkörper und die stabile Leinenhose mit
den unzähligen Taschen. Sie mochte es, zu verbergen, dass sie eine Frau war –
viele heuerten Frauen ungerne an. Im Sommer jedoch hätte das bedeutet, viel zu
warm angezogen zu sein, und so ließ sie es bleiben. Selbst so – Serafin war
schlank und flach, keine Kurven, hoch gewachsen. Viele hielten sie auf den
ersten Blick immer noch bloß für einen jungen Mann, vielleicht den jüngsten
Sohn einer Großfamilie, für den es im Erbe keinen Platz mehr gegeben hatte und
der sich nun mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt.
Was gar nicht einmal so weit weg
von der Wahrheit war.
Sie schob den Strohhut auf ihrem
Kopf hinunter, kratzte sich unter dem groben Kopftuch, das ihre Haare
zurückhielt, und schob den Hut wieder hoch. Es war warm, aber der einzige
Schatten, den sie hier bekommen konnte, und Sonnenfieber kannte sie bereits zur
Genüge. Die Luft so staubig, dass man die Staubschicht in Mund und Nase fast
schmecken konnte, die Luft flirrend vor Hitze, und sie hatte kein Geld mehr.
Hier, am Rand des Marktplatzes, wo die Händler und Reisenden ihre Karren
abstellten, wo Reisende abfuhren und ankamen, da war fast immer Arbeit zu
finden, egal, in welcher Stadt sie gerade war. Serafin verlangte für die Arbeit
als Begleitschutz nicht viel, für die Arbeit als Handlanger noch weniger. Kam
das Reiseziel des Händlers ihr entgegen, verlangte sie noch weniger. Lieber fünf Jobs für jeweils drei Kupfer als
ein Job für ein Silber, dachte sie bei sich, dachte sie immer, aber auch
das war heute nicht zu machen.
Die Luft war flirrend heiß, und Serafin
ließ sich einfach in den Schatten unter der Akazie fallen, die die Mitte des
Platzes überschattete, zusammen mit dem geschlossenen Brunnen. Sie schloss
einfach müde die Augen und rieb sich träge übers Gesicht, alles zu hell und zu
warm. Was bist du auch nicht früher in
den Norden abgehauen, dachte sie schlecht gelaunt. Selbst schuld. Selbst ihre Lederrüstung trug sie lieber in ihrem
Bündel herum, als sie anzulegen – sie war zwar gut geeignet, die Leute von Serafins
Eignung als Karawanenwächter zu überzeugen, aber bei der glühenden Sonne wäre
sie darunter einfach weggeschmolzen. Sogar die Pflastersteine brannten. Sie
strich mit den Fingern über den rauen, rotbraunen Stein des Pflasters, schob
dann ihren Strohhut vom Kopf, sodass der in ihrem Nacken hing, und zog sich das
Kopftuch von den Haaren, um wenigstens für eine Weile ein bisschen Wind an sich
heran zu lassen. Auch, wenn der Wind genauso warm war, er kühlte sie zumindest
ein bisschen ab und trocknete die schweißnassen kurzen Haare. Sie gingen Serafin
mittlerweile wieder bis unters Kinn, sodass das Kopftuch nötig war, wenn sie
bei Wind noch etwas sehen wollte.
„Hallo.“
Sie blickte auf, überraschter,
als sie es sich selbst gegenüber eingestehen wollte. Direkt vor ihr stand
jemand, ohne dass sie ihn hatte kommen sehen. Eine Frau, mit vielen tausend
Fältchen im Gesicht, Krähenfüßen an den Augen und einem Lächeln, das dem der
Sonne Konkurrenz machte. Sie war tief gebräunt, die ledrige Haut von jemandem,
der sein Leben lang der Sonne ausgesetzt gewesen war, und trug bunte Kleidung,
mit bunten Schnüren und Holzperlen in den schwarzen, mit grauen Strähnen
durchsetzten Haaren. Sie strahlte so viel Wärme und Licht aus mit ihrer
farbenfrohen Kleidung und ihrem Lächeln, dass sie der Sonne an diesem Tag Konkurrenz machte. Um
ihre bloßen Knöchel klimperten mit Holzperlen geschmückte Messingkettchen.
Die Frau deutete auf das blutrote
Stoffband, mit dem Serafins linker Unterarm umwickelt war. „Du bist eine
Söldnerin, ja?“
Serafin seufzte leise. Frauen als
Söldner waren selten, und viel zu oft wollten die Leute, die sie ansprachen,
ihr keinen Job anbieten, sondern nur zweifelhafte Angebote unterbreiten. „Ja.“
Auf dem zerfurchten,
sonnengegerbten Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, dem mehrere Zähne
fehlten, aber selten hatte Serafin mehr Freude gesehen. „Wir haben Arbeit für
dich.“
„Worum geht’s?“ Sie stand auf,
jetzt fast einen halben Kopf größer als die Frau von den Libor Kah.
Umherziehendes Spielmannsvolk. Serafin zweifelte nicht, dass diese Frau eine
von ihnen war. Das Volk der Libor Kah war leicht zu erkennen – stets dunkel
gebräunt von der Sonne, kräftiges, dickes schwarzes Haar, über das die
Edelfrauen hinter vorgehaltenen Händen flüsterten, und hellen, grauen Augen.
Diese Augen hatte nur das Volk der Libor Kah.
„Meine Familie und ich sind auf
dem Weg nach Skraa.“
Serafin hob die Augenbrauen und
folgte der Frau, als diese langsam zum Rand des Platzes schlenderte. „Direkt
ins Nachbarland? Je nachdem, vor wem ihr auf der Flucht seid, steigt der
Preis.“
Die Libor Kah nickte und lächelte
nur und führte Serafin zu einem bunten Schaustellerwagen, um den andere Libor
Kah herumstanden. Ein alter Mann, zwei fast gleich aussehende junge Männer, die
mit Serafin auf Augenhöhe waren und so durchtrainiert, dass sie sich fragte,
warum diese Familie noch zusätzliche Karawanenwächter anheuern musste. Ein
Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, dürr und unruhig hinter ihren Brüdern
tippelnd, und an der Hand eines sehr alten, gebeugten Mannes ein kleiner Junge.
„Deine Arbeit soll es sein,
jemanden von uns zu beschützen.“
„Leibwache?“ Serafin runzelte die
Stirn, Anspannung schlich sich hinein. „Ich hab keine Erfahrung mit
Personenschutz. Bisher ging es immer nur um Fracht und Gepäck oder
Auskundschaften der Route.“
Die Frau nickte, und Serafin
konnte sehen, wie sich Missbilligung in die Augen der beiden jungen Männer
schlich, aber keine Ablehnung. Sie hätte die Tatsache, dass sie niemals als
Leibwache für jemanden fungiert hatte, für sich behalten können, aber sie hatte
in diesem Job gelernt, dass Ehrlichkeit mit den Arbeitgebern meist am besten
funktionierte.
„Aber dafür bist du eine Frau.“,
sagte der alte Mann und lächelte Serafin ebenfalls an, sodass sie unwillkürlich
die Arme verschränkte, wie um eine Barriere aufzubauen gegen die plötzliche
Nähe, die diese Leute herzustellen versuchten. „Uns ist wohler, wenn wir eine
Frau mit dieser Aufgabe betrauen können.“
Sie hob die Augenbrauen, aber die
alte Libor Kah nickte nur den jungen Männern zu, und derjenige, der den kleinen
goldenen Ohrring im linken Ohr trug, zog eine siebte Person hinter dem Wagen
der Schausteller hervor, wo sie anscheinend verborgen im Schatten der
Wagenplane gewartet hatte. In Lumpenkleidern und Kopf und Schultern von einem
großen Tuch verborgen, dass sie sich umgeschlungen hatte. Serafin erkannte nur
am Rock, dass es eine junge Frau war, ehe die alte Frau sie überraschend
vorsichtig am Arm nahm und etwas näher zog, gleichzeitig leiser sprechend, sie
und die vermummte Person wieder in den Schatten und Sichtschutz des Wagens
ziehend.
„Auf sie sollst du aufpassen.“,
sagte sie leise, und die Familie, selbst das kleine Mädchen, formten fast eine
Art Schutzkreis um sie herum. Serafin konnte die Angst, entdeckt zu werden, aus
jeder noch so kleinen Bewegung lesen. Diese Leute hatten große Angst, gefunden
zu werden, und das hing mit der vermummten Gestalt zusammen.
„Was ist mit dir los? Was hast du
zu verbergen?“, fragte sie offen heraus, und die vermummte Person zögerte. Zog
langsam den Schal etwas herunter, sodass Serafin zumindest Augen und Nase sehen
konnte, schließlich noch ein Stückchen herunter, bis kurz unters Kinn. Ein
hübsches Gesicht. Eine junge Frau, voller Sommersprossen auf der blassen Haut, ohne
die hellen Augen der Libor Kah, stattdessen die Augen ebenso warm und braun wie
die Haarsträhne, die unter dem Schal hervorgerutscht war. Sie war wirklich
hübsch. Keine Narben, keine merkwürdigen Zeichen auf der Haut, keine
Muttermale. Nur die ungezählten Sommersprossen auf den schmalen Wangen und der
Nase.
Nicht so wie Serafin, die ihre
alte, rote Narbe quer über Nase und linke Wange trug. Trotzdem erkannte Serafin
die junge Frau sofort.
„Du bist die, deren Plakate
überall hängen. Die Gilde sucht wie verrückt nach dir.“ Neugierig musterte Serafin
die junge Frau, erinnerte sich an die Bilder, die jede freie Fläche im ganzen
Land zupflasterten. Gesucht wegen … wegen was eigentlich? „Ohne einen Grund
anzugeben.“
Das Lächeln auf dem Gesicht der
jungen Frau wurde zu einem entschlossenen Strich. Dünne, zusammengepresste
Lippen und ein vehementes Kopfschütteln, das mehr Haarsträhnen unter dem Schal
hervorrutschen ließ. Schulterlang, vielleicht länger, und so warm wie dunkles
Holz im Sonnenschein. „Die suchen nicht mich.“, sagte sie. „Sie suchen jemand
anderen, der genauso aussieht wie ich, aber nicht mich. Bloß kann ihnen das
keiner klarmachen. Und wenn sie mich ausliefern – und glauben, ich sei die
richtige – dann bin ich tot.“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte wieder etwas
zerstreut, und Serafin sah sie lächeln und fast war es wie ein Sonnenstrahl.
„Lange Geschichte, tut mir Leid.
Aber … ausführlicher kann ich sie dir nicht erzählen. Noch nicht. Wir müssen
vorsichtig sein, entschuldige, aber jedenfalls ist das die Zusammenfassung.“
„Du sollst sie beschützen, bis
wir außer Landes sind.“, sagte die alte Frau wieder, aber Serafin musterte
weiterhin die junge Frau vor sich, vielleicht knapp einen Kopf kleiner als sie,
geringfügig größer, und unter dem groben Kleid und dem Schal ziemlich schmal.
Die blasse Haut verriet, dass sie das Leben auf der Straße nicht gewohnt war,
allerdings trug sie auch keine Schuhe, wiederum genau wie die Libor Kah, ohne blutige
Füße zu haben. Sie trug nicht die farbenfrohe Tracht mit Messingschmuck und
Holzperlen, aber ihre Kleidung musste dennoch zumindest teilweise von ihnen
geliehen sein. Sie bezeichneten das Mädchen als ihre Familie, aber eine Libor
Kah war sie nicht.
„Wie alt bist du?“, fragte Serafin.
„Einundzwanzig.“
„Weißt du das auf den Tag und
dein Geburtsjahr genau?“
„Ja.“ Verunsicherung schlich sich
in ihre Stimme, aber Serafin wusste, dass sie zumindest die ersten Jahre bei
einer guten Familie aufgewachsen sein musste. Wenig andere konnten ihren
Geburtstag auf das Jahr genau nennen, geschweige denn den genauen Tag. Serafins
zog jedes Jahr vorüber, ohne dass sie Notiz davon nahm – ihren Geburtstag hatte
ihr niemals jemand mitgeteilt, und das Jahr hatte sie nur im Nachhinein
feststellen können.
„Wie heißt du?“
„Marle.“ Das kam mit einem
leichten Zögern, aber ohne den Blickkontakt zu Serafin zu unterbrechen, ohne
vielleicht noch einen kurzen Blick zu der alten Frau neben Serafin zu werfen.
Sie war ein Teil der Familie, aber sie war ihre eigene Herrin, sie schuldete
keinem von ihnen Rechenschaft.
„Wer bist du, wenn du es nicht
bist, die sie suchen?“
Jetzt fehlten ihr die Worte, aber
das war, was Serafin gewollt hatte. Man lernte viel über Menschen, wenn man sie
einfach mit den direkten Fragen konfrontierte.
„Ich habe nichts getan.“, sagte
sie schließlich einfach nur, aber ihr Blick zu Serafin war fest und tiefgehend.
Sie flehte nicht – sie versuchte nur, zu überzeugen. „Ich habe nur …“
Und da war es. Sie senkte den
Blick, sie hob eine Hand, um sich damit im Nacken zu kratzen, den der Schal
verdeckte, kratzte sich am Hals, den Blick überall, bloß nicht auf Serafin
gerichtet. Serafin streckte die Hand nach ihr aus, wollte ihre Hand nehmen und
sie vom Kratzen abhalten, aber Marle schrak so heftig zurück, dass sie bis zur
Steinwand hinter sich zurückwich, die Arme abwehrend vor sich, die Augen
aufgerissen. Serafin hielt inne, ließ langsam die Hand sinken.
„Entschuldige.“, sagte sie
vorsichtig, lächelte. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte nur sehen,
was mit dir los ist.“
Marle nickte nur langsam, kam
wieder zu ihnen. Sie erinnerte Serafin an eine Katze, jederzeit auf dem Sprung,
nur bereit, berührt zu werden, wenn sie vorher die Chance hatte, das
zuzulassen. Angst davor, dass jemand sie in seinem Griff gefangen halten
könnte.
„Schon gut.“
Sie blickte sich um, und der
kleine Junge an der Hand des alten Mannes quengelte leise in der dichten Mauer,
die die anderen Familienmitglieder bildeten, aber schnell hießen sie ihn, still
zu sein, jeder von ihnen nervös und angespannt. Marle zog den Schal von ihrem
Kopf, und auf dem blassen, schlanken Hals unter den zerwuschelten Haaren sah Serafin
das Siegel.
Sie hätte es nicht erkannt, wären
solche Siegel ihr nicht vertraut gewesen. Sie trat näher, langsamer diesmal,
und auch wenn Marle sie nicht aus den Augen ließ, ließ sie zu, dass Serafin
ihre Haare beiseite strich und sich das Siegel in ihrem Nacken, halb auf dem
Rücken, näher ansah. Es reichte auf einer Seite bis zum Schlüsselbein, erkannte
sie, als sie den Verlauf des Siegels nachfuhr. Schwarz wie Schatten, aber die
Schwärze verschwamm. War brüchig an einigen Stellen, und dort war die Haut
blutig gekratzt.
„Etwas ist versiegelt worden in
dir.“, sagte sie leise, versuchte, das Siegel zu lesen, aber zu wenig wusste
sie darüber. Sie wusste nur, was sie sich selbst in Büchern angelesen hatte,
und dazu wurde zu viel über die Siegeltechnik von den Magiern der Gilde
eifersüchtig unter Verschluss gehalten. „Aber das Siegel bricht. Siegel merkt
man bis auf die Knochen, deshalb das viele Kratzen – hast du starke Schmerzen?“
Marle nickte nur, der Mund ein
schmaler Strich, und Serafin wusste, sie musste stärkere Schmerzen haben, als
sie anderen und sich selbst gegenüber eingestand. Brechende Siegel waren eine
grässliche Angelegenheit.
„Bist du ein Mensch oder Magier?“
„Mensch.“
Serafin nickte, fragte nicht
weiter nach. Sie wollten ihr nicht sagen, was versiegelt worden war, warum das
Siegel brüchig war, aber um den Job annehmen zu können – auch wenn etwas in ihr
flüsterte, dass sie das ohnehin musste; sie brauchte nur Marle sehen, schmales
Gesicht, warme Augen und so stark, dieses Siegel zu ertragen – brauchte sie
noch eine Information.
„Wenn dein Siegel zerstört ist,
hat das Konsequenzen für dich oder für diejenigen um dich herum?“
Sie lächelte. „Nur für mich.“
Erst war Serafin verwirrt, runzelte die Stirn. „Es ist wirklich nur auf mich
bezogen.“
Das Siegel bricht und was auch immer versiegelt sein sollte, wird sie
umbringen, also warum zur Hölle lächelt sie?, fragte sich Serafin völlig
verwirrt, aber sie stellte diese Frage zurück. Sie wusste, was wichtig war, und
sie nickte Marle zu.
„In Ordnung. Ich nehm den Job.“
Marle lächelte, und nur für
dieses Lächeln hätte Serafin alles gesagt, was sie hören wollte. Es traf sie so
unvorbereitet wie ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht, und war Wärme.
Wärmer und leuchtender als dieser Sommertag, und es ging Serafin so durch und
durch, dass sie sich abrupt abwandte, der alten Frau zu, die ihr die Hand
hinstreckte.
„Dann ist es eine Freude für uns,
dich kennen zu lernen.“ Serafin ergriff die alte, faltige Hand, in der noch
weit mehr Kraft streckte, als sie ihr zugetraut hätte, und traute sich nicht,
sich wieder zu Marle umzudrehen – aus Angst, ihr Lächeln könnte wieder völlig
unvorbereitet hinter die Barrieren fahren, die Serafin sich so sorgfältig um
ihr Innerstes gebaut hatte. Das hier war Arbeit. Arbeit wie jede andere. Und
eine Person zu beschützen anstelle von Fracht konnte so anders nicht sein.
„Ich bin Jasallha. Auch nur Sal,
wenn es schnell gehen muss.“ Die anderen der Familie drehten sich zu ihnen um,
als sie Jasallha hörten, und blickten Serafin mit einer Mischung aus
Dankbarkeit und Erleichterung an.
„Juha.“, sagte der alte Mann,
„und Tibor.“, deutete er auf den kleinen Jungen, der sich an sein Bein
klammerte. „Hali.“, der Händedruck des jungen Mannes mit dem linken goldenen
Ohrring zerquetschte Serafin fast die Finger, aber sie stand ihm nicht im
geringsten nach, seinen Bruder, „Kali.“, mit dem Ohrring auf der rechten Seite,
übertraf sie sogar. „Shinai.“, sagte das kleine Mädchen mit trotzig
vorgestrecktem Kinn und misstrauisch verengten Augen. „Und ich lass dich nicht
aus den Augen. Wenn du Marle wehtust, musst du erst an mir vorbei.“
Fast musste Serafin lachen.
„Sicher, dass du diesen Job nicht hättest machen sollen?“, fragte sie grinsend,
und das kleine Mädchen sah sie nur umso strenger an. „Wir brauchen auch
niemanden. Wir können alleine auf Marle aufpassen. Wir sind alle stark.“, sagte
sie, packte Marles Hand, die sich wieder in ihr Tuch gewickelt hatte, und sah Serafin
noch einmal nachdrücklich streng an. „Die anderen haben gesagt, wir brauchen
jemanden. Aber das stimmt nicht.“
„Shinai, wir haben darüber
geredet.“, sagte Jasallha, und in ihrer Stimme schwang Ende der Diskussion mit. „Du isst bei uns mit und richtest dich in
allem, was Marle tut, nach ihr, es sei denn, du bist der Meinung, es bringt sie
in Gefahr oder schadet ihr. Pass auf sie auf und beschütze sie mit deinem Leben.
Du kannst schlafen, sobald du vorher für Marles Sicherheit gesorgt hast und
entweder Hali oder Kali währenddessen auf sie achtgeben. Wenn jemand fragt,
wofür du angeheuert wurdest, dann hast du dich uns nur als Schutz vor
eventuellen Wegelagerern im Tausche für Essen und Unterkunft angeschlossen.
Wenn jemand fragt, was unser Ziel ist, sind wir auf dem Weg zu den
Feierlichkeiten im Feenwald, weil wir dort spielen wollen.“ Der Feenwald war
nah an der Grenze zu Skraa, aber Serafin nickte übereinstimmend. Die Ausrede,
sich auf dem Weg zum Mittsommernachtsfest zu befinden, war für Spielleute
völlig plausibel. „Deine Bezahlung erhältst du jeden Tag bei Sonnenuntergang.
Wir bezahlen dich tageweise, und jeweils nach getaner Arbeit. Wieviel verlangst
du?“
Serafin kalkulierte. Das hier war
ein Job mit vielen Risiken, sie konnte eine Menge Kupfer da rausholen.
Andererseits hatten Jasallha und ihre Familie sie aus Sorge angeheuert, Sorge
um Marle, und nicht, weil sie Kupfer zu verschenken hatten. Sie waren nicht
bitterarm, die Kleidung war zwar geflickt, aber nicht ärmlich, aber Spielleute
hatten niemals viel Geld. Ihr Wagen war gut gepflegt, aber alt, und die Farbe
blätterte ab an den Stellen, an denen man es nicht sofort sah.
„Fünf Kupfer am Tag. Feststehend,
keine Gefahrenzulage.“
Sie sah die überraschten Blicke
der anderen, bevor sie sich, Schausteller, die sie waren, wieder in den Griff
bekamen. Das war billig. Das war sehr billig, und es entsetzte Serafin selbst,
wie wenig Geld sie hier verlangte, obwohl diese Menschen klar bereit gewesen
wären, erheblich mehr zu bezahlen. Serafin hatte schon leichtere Jobs mit einem
Silber am Tag gehabt, und selbst das war die untere Grenze gewesen. Fünf Kupfer
waren fast schon misstrauenserregend billig, aber sie blieb dabei. Und sie sah
die Erleichterung in Jasallhas Blick und die Überraschung in Shinais kleinem,
schmalem Gesicht.
Sie nickte noch einmal und kramte
ihren Vertrag aus einer der vielen schmalen Taschen ihrer Hose und an ihrem
Gürtel hervor. Sie hatte immer mindestens fünf Expemplare vorbereitet, jeden
davon auf Papier. Von Pergament ließ sich allzu leicht ohne Rückstände die
Schrift abschaben und der Vertrag fälschen. Sie hob ihr Reisebündel vom Rücken,
ging in die Hocke und kramte darin nach dem kleinen Tintenfässchen und
Federkiel, hielt beides, der Federkiel schon arg zerfleddert, Marle entgegen.
„Du bist die Schutzperson, du
unterschreibst.“, sagte sie ernst. „Erst darunter Jasallha. Den Vertrag behalte
ich, ihr könnt ihn euch allerdings abschreiben, wenn ihr das möchtet, oder ich
erstelle euch euer eigenes Exemplar. Ihr müsst nicht unterschreiben, es reicht
auch irgendein Zeichen, das euren Namen eindeutig rüberbringt.“ Marle schrieb
ihren Namen in feiner, eleganter Schrift, die Serafin erstaunte. „Und jetzt
noch den Daumen – nein, den linken – hier auf das Tintenkissen legen, feste
raufdrücken, dann auf den Vertrag. Sauberen Abdruck machen.“ Marle folgte ihren
Anweisungen, und kritisch beäugte Serafin den Fingerabdruck. „Sauber genug.
Jasallha?“
Jasallha schrieb ihren Namen so
verschnörkelt, dass Serafin sich kaum vorstellen konnte, in dieser Schrift
längere Texte lesen zu müssen, und hinterließ ebenfalls einen Daumenabdruck,
auch wenn jedem von ihnen im Gesicht abzulesen war, dass sie nicht wussten,
wofür das dienen sollte. Keiner allerdings fragte, und Serafin war nicht die
vor Worten übersprudelnde Sorte. Sie kratzte etwas trockenen Staub vom Boden,
blies ihn vorsichtig über die nasse Tinte, faltete den Vertrag schließlich mit
einem Nicken wieder zusammen und wickelte ihn wieder in das Wachstuch. Preis
und andere Details hatte sie selbst unter Jasallhas und Marles Blick in den
Vertrag geschrieben.
„Gut, das wären die
Formalitäten.“, sagte sie und hob ihr Bündel wieder auf den Rücken, als sie
erst jetzt die Blicke der anderen auf sich spürte. „Was ist?“
„Dein Name.“ Jasallha lächelte.
„Sagst du uns deinen Namen?“
„Ah. Entschuldigt. Vergess ich
manchmal. Serafin.“
Shinai quietschte leise, und
Serafin warf ihr einen bösen Blick zu, aber das kleine Mädchen wirkte ernsthaft
begeistert. „So ein schöner Name!“, rief sie entzückt, „Serafin!“
Verärgert runzelte Serafin die
Stirn und wollte gerade widersprechen, aber Marle war schneller.
„Finn.“
Serafin blinzelte verwirrt.
„Was?“
„Na, du brauchst einen
Spitznamen. Alle nennen dich Serafin, also nennen wir dich Finn.“ Sie lächelte
wieder, und Finn sah weg, fürchtete, dass man ihr die Freude darüber allzu
deutlich im Gesicht ablesen konnte. Sie baute sich so sorgfältig ihre Mauern,
hielt sie über Jahre intakt, und jetzt musste sie sich vor diesem einen Lächeln
in Acht nehmen, wenn sie nicht alle Masken und Schutzschichten fallen lassen
wollte! Das hier war Arbeit. Diese Leute betrachteten sich als Familie, und sie
mochten auch eine Familie sein, aber Serafin hatte einen Job bekommen und ihre
Arbeit zu erledigen. Sie war kein Teil dieser Familie, und sie brauchte auch
niemanden von ihnen.
Sie machten sich auf den Weg,
sichtlich erleichtert und froh, jemanden gefunden zu haben. Bis sie die
Stadtmauern hinter sich gelassen hatten, fuhren Serafin und Marle im zweiten
Wagen der Familie, den Hali lenkte mit Juha und Tibor neben sich auf der Bank.
Ab da lief Serafin, und obwohl die anderen ihr auf der Bank Platz machten, ließ
Marle sich nicht davon abbringen, neben Serafin zu laufen. Obwohl sie in ihrer
unmittelbaren Nähe geblieben wäre. Sie gingen schweigend – nicht lange, aber
währenddessen wiederholte Serafin das Wort in ihrem Kopf.
Finn.
Sie mochte den Klang. Sehr sogar.
Finn. Sie blinzelte irritiert, aber ein leichtes Zucken ihrer Mundwinkel
verriet trotzdem, was für einen freudigen Hüpfer ihr Herz gemacht hatte und
immer noch machte, als Marle sie Finn genannt hatte.
Ein … mein Spitzname.