Freitag, 12. April 2013

Serafin - Gerüchte aus einem Söldnerleben VII



„You had it all, but you were careless and let it fall. You had it all, and I was by your side – Powerless.“

Vier

Finn besuchte die Postkutschenzentrale, erfragte Fahrpläne und studierte Landkarten und Pläne, fragte nach den Fahrzeiten und erfuhr schließlich, wohin diese eine besondere Kutsche gefahren.

(Als sie Aya sieht, nach all den Jahren, da sitzt Aya in einer Postkutsche, die gerade auf die Stadttore zurollt, und Serafin selbst steht inmitten der Marktbesucher, steht inmitten viel zu vieler Leute vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Kutsche von ihr entfernt, und all diese Leute, all diese viel zu vielen Leute stehen in ihrem Weg, als sie sie alle beiseite schubst und stößt, alle Rücksicht vergessen.)

„Finn,“,  hatte Aya einmal gesagt, „Erzähl doch mal etwas über dich. Ich hab dir meine ganzen schmutzigen Geheimnisse verraten, aber du erzählst nie etwas, behältst immer alle für dich. Das ist nicht fair.“ Mit einem Lächeln hatte sie das gesagt und damit eine Tür in Finn aufgestoßen, die jener das Lachen auf den Lippen gefrieren ließ und die Worte versiegen, mit denen sie sonst doch immer so schnell. 

Damals hatte ich alles, was ich wollte, denkt Finn, vor sich die Karte, die ihr die Route zeigt, die jene wichtigste Postkutsche der weiten, weiten Welt gefahren ist. Und wohin. Sie sitzt spätnachts in einer billigen Spelunke vor dieser Karte, hat sich billigen Alkohol gegen die viel zu kalte Frühlingsnacht geholt und ein tropfendes Talglicht und brütet über dieser Kerze, mit zu wenig Alkohol, um das Denken sein zu lassen. Alles, was ich mir je hätte wünschen können. Ich hatte Aya. Wenig Geld, immer noch Kopfgeld auf mich selbst ausgesetzt und keine Freunde. Aber ich hatte Aya. Und ich hab damals gedacht, es reicht, wenn alles so bleibt. Ich dachte, es reicht, sie muss nicht alles über mich wissen. Ohne nachzudenken hab ich angenommen, es wäre besser, Aya niemals irgendetwas davon zu erzählen, und dadurch hab ich sie losgelassen.

(„Du versteckst deine Geheimnisse, wo ich dir alles von mir erzählt habe, selbst die schlimmen Dinge.“, sagt Aya, und sie blickt nicht weg, gibt Finn nicht die Gnade, das alles einfach sein zu lassen. Zwingt sie, zu reden, obwohl Finn an ihren eigenen Worten erstickt, weil sie merkt, dass sie gar nicht erzählen kann, nicht darüber. „Aber ich beobachte dich, Finn. Ich kann sehen, dass da sehr viel mehr hinter dir steckt. Schlimme Dinge, wie hinter jedem. Blutige Dinge vielleicht.“)

Sie hatte Aya damals alles versprochen. Sie zu beschützen. Sie nie anzulügen. Sie hatte Aya alles versprochen, was diese verlangt hatte, und Aya hatte selten verlangt. Es waren immer nur Finns verzweifelte Versuche gewesen, Aya bei sich zu behalten, die Angst zu kontrollieren, dass sie eines Tages einen riesigen Fehler begehen könnte. So viele Möglichkeiten, Aya zu verlieren, und während Finn versuchte, Aya nicht festzuhalten, weil genau das Aya weglaufen ließ, malte sie sich nachts und in einsamen Stunden jede einzelne mögliche Zukunft aus. Und in so vielen verlor sie Aya auf sie viele Weisen.

(Nicht klammern, nicht klammern, nicht klammern. Sie hat so oft darüber geschimpft, wie andere das tun, und du hast bei jedem dieser anderen gesehen, dass Aya ihnen schließlich weggelaufen ist. Vertrau ihr. Nicht klammern, Finn.)


Fünf

"I watched you fall apart and chased you to the end."
 
(Nicht klammern, nicht klammern, nicht klammern. Sie hat so oft darüber geschimpft, wie andere das tun, und du hast bei jedem dieser anderen gesehen, dass Aya ihnen schließlich weggelaufen ist. Vertrau ihr. Nicht klammern, Finn.

“Aya, bitte.”

Die hellen, fast grauen Augen sehen sie an. Lächeln nicht. „Was? Denkst du, ich würde nicht gehen? Ich zwinge dich doch nicht, mitzukommen, Finn. Aber was ist denn so schlimm daran?“

Finn beißt sich auf die Lippe. Dass es dieses spezielle Land, diese spezielle Grafschaft ist, will sie rufen, will sie schreien, schlimm ist, dass du dir ausgerechnet diesen Baron aussuchen musstest und dass dieser Baron ausgerechnet in diesem Land, ausgerechnet auf dieser Burg leben muss!, aber sie ist still. Sagt nichts, weil das, was sie sagen kann, nicht geht, und alle anderen Worte ihr den Hals verstopfen.

Aya blickt sie an, wartet sehr lange ab, aber Finn kriegt kein Wort heraus, und schließlich schüttelt Aya den Kopf und schließt ihre Satteltasche. „Für mich ist das eine einmalige Chance, mir einen Ruf zu verdienen.“, sagte sie. „Die Arbeit ist für mich ziemlich einfach, ich soll ihm einfach nur ein Buch abschreiben – und für die Zeit habe ich Kost, Logis und nach Prüfung der Arbeit eine sehr großzügige Bezahlung sowie ein Empfehlungsschreiben. Weißt du überhaupt, was das heißt? Geld verdienen wäre nie mehr ein Problem. Ich könnte mir ein Zimmer nehmen, anstatt in den Wintern mich in schmutzige Ecken verkriechen zu müssen.“

Serafin weiß, dass das für Aya die größte Chance des Lebens ist. Aber sie kann nicht mitkommen.
„Wir sehen uns wieder, wenn ich fertig bin, wenn du wirklich nicht mitkommen willst. Aber ich versteh’s nicht, Finn. Warum kannst du mir das nicht erzählen? Vertraust du mir doch nicht?”

Finn schweigt.

“Wir würden uns danach nicht wiedersehen.”, sagt sie. „Ich kann nicht lange an einem Ort bleiben, du weißt nicht, wie lange du dort brauchen wirst. Und er wird dich dabehalten, wenn deine Arbeit ihm gefällt. Du wirst bei ihm bleiben, ziemlich sicher, weil er dir Geld und ein Bett und Essen geben wird. Unterkunft. Und wir werden uns aus den Augen verlieren.”

„Finn.“, murmelt Aya, und ihr Blick wird etwas weicher. „Ich würde dich nicht vergessen. Niemals.“

„Ja, das sagst du jetzt, aber du wirst es.“, fährt Finn fort und kann Aya nicht in die Augen sehen, vergräbt die Hände tief in den abgewetzten Manteltaschen, als würde sie auch sich selbst da drin verstecken können.

„Du kannst doch nachkommen.“

Finn knirscht mit den Zähnen. Das kann sie nicht, aber wenn sie Aya nicht den Grund dafür erklärt, dann wird diese es auch nicht verstehen.)

Finn kann sich so gut an damals erinnern. Aya ist gegangen, dorthin, und die letzten Tage waren nicht schön gewesen. Sie hatten sich gestritten über unnötige Kleinigkeiten und sich angeschwiegen, ohne dass es ein schönes Schweigen gewesen wäre. Und der Abschied erst.

(In letzter Verzweiflung packt Finn Aya am Arm. Das hat sie nie gemacht. „Geh nicht. Bitte.“

“Lass mich los.” Aya sieht sie aus schmalen Augen an, und Finn weiß doch eigentlich, was das heißt, die schmalen, zusammengepressten Lippen, der völlig verkrampfte Körper, aber sie kann Aya nicht loslassen. Denn Finn hat Angst. Schreckliche Angst.

„Erst, wenn du sagst, dass du nicht gehst.“

“LASS MICH LOS!” Gewaltsam reißt Aya sich aus ihrem Griff, Finn stolpert zurück, lässt halb freiwillig los, und hasst sich selbst, wird von Angst verschluckt und von einem Ekel und Abscheu vor sich selbst erfasst, der sie fast würgen lässt. Aya steigt so schnell auf ihr Pferd, wie sie schafft, sieht Finn nur noch einmal an, enttäuscht, zitternd, Tränen in den Augen, aber sie sagt nichts. Sie reitet davon. Ein schmaler Rücken an einem sonnigen, viel zu kalten Herbsttag, an dem leuchtende Blätter durch die Sonnenstrahlen tanzen, und Finn schlägt solange auf die Pflastersteine ein, bis Blut von ihren Händen tropft. Sie sieht Aya davonreiten und weiß, dass sie den schlimmsten Fehler begangen hat, der bei Aya jemals möglich war. So unvorsichtig. So kraftlos, beherrscht von nackter Angst.)

Und immer noch, nach all den Jahren, spürt Finn diese Leere in sich. Damals dachte sie, beherrscht erst von Angst, dann von falschem, dummen Stolz, diese Leere würde sich mit der Zeit geben. Dass sie auch ohne Aya leben könnte. Versuchte, die ganze Angelegenheit einfach abzuhaken und zu vergessen oder zumindest abzuschließen. Und sie merkte, dass sie das nicht konnte. Im Nachhinein dachte Finn jetzt, dass sie genau das eigentlich schon immer gewusst hatte. Jahre hatte sie trotzdem gebraucht.

(Über einen dünnen Kontakt findet Finn heraus, dass Aya tatsächlich noch dort ist. Bei diesem Baron. Diesem Magier. Sie ignoriert ihre Angst, versucht es zumindest, denkt nur an Aya. Versucht erst, einen Brief zu schreiben, doch auf den erhält sie nie eine Antwort. Vielleicht wollte Aya nicht antworten – vielleicht hat dieser Brief sie aber auch nie erreicht, und daran klammert sich Finn. Resolute Entschlossenheit ersetzt Angst, und sie schwört sich, nicht eher aufzugeben, Aya zu erreichen, ehe jene nicht irgendeine Art von deutlicher Antwort gegeben hat, ehe sie nicht noch einmal mit Aya reden konnte. Aya, Aya, Aya. Kaum etwas anderes mehr im Kopf. Finn schmiedet Pläne. Finn schneidet ihre Haare und färbt sie, Finn hüllt sich in dunkle Lumpen, Finn fährt ein Stück, ehe der Kutscher sie bemerkt und sie im Straßengraben landet, bei der Postkutsche mit, und sie fährt zu Aya. Sie versucht, die Angst zu vergessen, die sich in ihrem Magen einnistet, als sie sich in seinem bewegt, seinem Einflussbereich. Er könnte überall sein, so wie Aya, und in jeder Menschenmenge sucht sie eines dieser beiden Gesichter, hoffend und fürchtend.)

Der Magier, der zusammen mit dem Baron diese Ländereien damals wie heute beherrschte und bestellen ließ, war Finns Vater. Ein strenger Mann, unverheiratet, doch ohne Zurückhaltung, wenn es um Besuche der Freudenhäuser ging, mit niedrigen Ansprüchen. Finns Mutter mochte zwar eine Angehörige des Elbenvolks gewesen sein, die doch immer so anmutig und schön sein sollten, doch diese Frau war das schwarze Schaf einer ganzen Art gewesen. Aufgequollen durch den Alkohol, verbraucht und alt. Kein Wunder, dass der Magier nicht aufgepasst hatte. Wer weiß schon, wie, aber Finn war geboren worden.

(„Halb Magier, halb Elbin.”, wisperte Finn, im Fenster hockend, verborgend zwischen den Ranken von wildem Wein, der sich hier üppig am Haus hinaufrankte. Vor sich Aya, die nicht schlecht gestaunt und geweint und gelacht hatte, und hinter sich einen halsbrecherischen Einbruch auf das Gelände des Mannes, den sie so hasste und fürchtete. „Ich hab magische Kräfte, aber die kann ich nicht konrollieren. Ist wie eine Zeitbombe, wenn ich zu zaubern versuche. So ist meine Mutter gestorben – verbrannt. Nur, weil ich wütend war. Aber sie war eine schlechte Frau. Immer betrunken, und hat mich nur geschlagen.” Sie sieht erste Spuren von Furcht in Ayas Augen, und deshalb beschwichtigt sie sie sogleich: “Mittlerweile hab ich ein Siegel auf dem Rücken, das unterdrückt die Magie. Relativ schwach, aber für mich reicht es allemal. Ich bin also eigentlich wie ein Mensch – selbst meine Mutter war keine reine Elbin, von ihr hab ich fast nichts geerbt. Aber nachdem ich meine Mutter in diesem Unfall umgebracht hatte, wurde mein Vater auf die ganze Sache aufmerksam, er hatte gemerkt, dass dort Magie im Spiel gewesen war, und er hat mich gefunden. Mich hierher gebracht. Gefangen gehalten mehr alles andere. Hat alles erfahren. Ein Kind von einer Elbenhure, das noch nicht einmal zuverlässig Magie wirken konnte und auch keine Chance hatte, das jemals erfolgreich zu lerne, unehelich – was für eine Schande für ihn.”

Ganz, ganz leise lacht Finn, auch wenn ihr nicht nach Lachen zumute ist, aber sie lacht immer, denn das hilft, sich selbst ganz zu halten. Das hilft, um nicht vor Angst zu erstarren.

„Hat also den Auftrag gegeben, mich umzubringen. Loszuwerden, unauffällig. Ich konnte fliehen, und er hat’s spitzgekriegt, hat ein Kopfgeld auf mich aussetzen lassen. Deshalb hab ich diesen Ländereien niemals nahe kommen wollen, deshalb konnte ich nicht mitkommen, Aya. Aber ich war dumm. So unglaublich dumm und unglaublich ängstlich, weil ich nichts davon sagen konnte. Ich konnte einfach nicht. Weil ich das noch nie jemandem erzählt habe. Ich hatte all das so tief vergraben, dass ich es nicht mehr geschafft habe, etwas davon wieder ans Licht zu zählen. Ich hatte immer nur Angst, Aya, so unglaubliche Angst, und Angst lässt mich unglaublich dumme Dinge tun. Es tut mir Leid. Alles. So schrecklich Leid.”

In Ayas Augen stehen Tränen, als sie Finn umarmt, so fest, und Finn kann nichts tun, weil sie einfach keine Ahnung hat, was. Sie steht einfach nur ungeschickt da, klammert sich schließlich selbst an Aya, die ihr immer wieder durch die Haare streicht, etwas, was Finn so, so schrecklich vermisst hat, dass sie jetzt gleichzeitig lachen und heulen könnte, und schließlich sagt Aya: „Du bist so ein kleiner Dummkopf. So ein verdammter Sturkopf. Ich war doch an deiner Seite, Finn. Du hast das alles in dir rumgetragen, all die verdammte  Zeit, und ich war die ganze Zeit an deiner Seite und unfähig, irgendetwas zu tun, weil du nichts sagen wolltest. Arme Finn.“

Und Finn weint. Steht in einem Gästezimmer ihres Vaters, des Mannes, der ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt und nicht zögern würde, sie augenblicklich zu töten, mit der Liebe ihres Lebens, und weint, während sie gleichzeitig nur noch aus Glück besteht. 

Finn, die doch immer die Erwachsenere war. Die Ältere, immerhin sechsundzwanzig Jahre, und so harte Jahre.

Und viel zu schnell muss sie sich wieder in der kalten Frühlingsnacht, einer Zeit, in der die Tage den Sommer erahnen lassen und die Nächte noch den Winter atmen, in wildem Wein verstecken und völlig reglos mit Finsternis verschmelzen. Finn schleicht durch die  Dunkelheit, ihr Schwert in der Hand, wenn sie nicht gerade klettern muss, ein zerkratztes, schartiges Kurzschwert, das schwach an einen Säbel erinnert, aber ihr gute Dienste leistet, schleicht und zittert.)

Finn trank ihren billigen Fusel in der dunklen Spelunkenecke, vor sich Karten. Sie hatte nach der ganzen Zeit viele Erinnerungen verloren, vieles unklar und diffus, Namen verloren, wo Finns Namensgedächtnis nie das Beste gewesen war. Aber an diese Stunden erinnerte sie sich sehr gut. An Aya, ihr Gesicht eingebrannt. An die Flucht vom Anwesen, ihr Schwert in der einen Hand, das auch jetzt an ihrem Gürtel hing, ihr Messer in der anderen, das sie nur kurze Zeit später verloren hatte. Sie erinnerte sich an den ersten Wächter, der sie entdeckte, und sie tötete ihn, während er ihr nur eine tiefe Schnittwunde auf der linken Schulter zufügte. Die Narbe schmerzte immer noch.

(Finn ignoriert die Schmerzen und rennt nur noch in die Nacht, rennt zum Wasser, rennt in den Wald, weil sie weiß, dass dieser Tod ihr nur Stunden gekauft hat, allerhöchstens. Noch auf den Feldern allerdings hört sie Schreie. Rufe. Klirren und den dumpfen Knall sich wieder schließender Tore. Hört galoppierende Pferde. Er weiß, dass sie da ist. Irgendwo, und er ist fester denn je entschlossen, sie endlich zu finden. Finn läuft durch Finsternis, durch die Reihen von Korn und Rüben. Läuft durch Bachläufe, auf den dunklen Wald zu, und bleibt in den Bachläufen, während am Horizont der Morgen graut.)

Finn trank, trank den billigen Fusel, aber die Erinnerungen waren da und ließen sich nicht aufhalten, die Karte auf dem Tisch vor ihr verfolgte sie und fesselte ihren Blick, zog sie in sich hinein, hypnotisierte und erinnerte sie. Verhöhnte sie, und Finn glaubte fast, wieder die Rufe des Magiers und der Soldaten zu hören, die sich an einem wunderschönen Frühlingsmorgen durch einen grünleuchtenden, duftenden Wald kämpfen und nur bloße Steinwürfe von ihrem Ziel entfernt sind. Die Bögen haben sie bereits beim ersten Licht herausgeholt.

(Finn erreicht den Wald, stolpert in die Bäume, ihre Lunge brennt, explodiert fast, von ihrer Schulter tropft Blut und der Arm hängt nutzlos herab. Sie hört Reiter hinter sich, greift mit der anderen, noch gesunden Hand ihr Schwert verbissen fester, dreht sich hinter einen schützenden schmalen Baum und halb den Kopf zur Seite, sieht im selben Moment den Reiter seitlich auf sich zukommen, Bogen und Pfeil  schon nicht mehr im Anschlag, im selben Moment, als sie das sieht, trifft der abgeschossene Pfeil eben jenes versteckten Reiters sie, im selben Moment, in dem Finn das Schwert zur Abwehr erhoben. Die Klinge teilt den Bogen des Reiters, bohrt sich in seinen Bauch und reißt ihn vom Pferd, aber das Schwert fällt Finn aus der Hand und sie selbst halb zu Boden, sich nur durch schiere Willenskraft nicht schreiend an dem Baum festhaltend so fest, dass ihre Fingerspitzen an der rauen Rinde aufreißen.)

Finn legte eine Hand auf die Brust und spürte die Narbe dieses Pfeils unter dem Hemd. Stechend. Ein tiefer, tiefer Schmerz, der ihr immer noch den Hals abschnürte, kurz unter dem Schlüsselbein. Sie erinnerte sich an die Schmerzen und trank … der Fusel war alle. Fluchte.

(Sie rennt. Sie weiß nicht, wie, sie hört die Rufe hinter sich der anderen Reiter, die den Aufruhr eben natürlich gesehen haben, die nun sehr genau wissen, wo sie ist, unter ihnen der Magier, mit ernster Miene und klaren Augen, der ihr nur eines wünscht und das schon immer sehr, sehr klar gemacht hat. Kein Mann, der Gnade walten lässt.

In Bäume stolpert sie. Durch Büsche. Zerkratzt ihre Haut und zerreißt ihre Kleidung an Dornenbüschen und kümmert sich nicht herum, atmet Luft, die sich wie Säure in ihren Lungen anfühlt, jeder Atemzug ein Kampf. Finn rennt.

Hinter sich Äste brechen, sie duckt sich, fällt zu Boden und rollt sich ab, sodass sie dem Reiter entgegensieht, das Schwert schwingt sie mehr blind als alles andere und bohrt es dem Pferd in die Brust, es fällt, begräbt seinen schreienden Reiter unter sich, und einer der anderen Reiter, der noch viel weiter hinten ist, schießt einen Pfeil ab, der sie trifft.)

Finn war fast, als würde sie wieder nicht atmen können, raufte sich die Haare und starrte die Karte an, als könne sie irgendetwas ändern. Sie spürte die erste Narbe unter dem linken Schlüsselbein, die sich anfühlte wie ein tief sitzender Dorn, nur unendlich viel größer, schmerzlicher, und die zweite, wo der Pfeil ziemlich zentral auf das Brustbein getroffen hatte, daran abgerutscht und seitlich eingedrungen war. In die Lunge. Sie steht auf, muss innehalten, als der Alkohol über sie hinwegrauscht und es ihr schwarz vor Augen wird, stolpert kontrolliert zum Tresen und bestellt neuen Fusel. Den allerbilligsten. Weil es für heute abend keine andere Möglichkeit mehr gibt. Und die Narben brennen. Das tun sie oft.

(Finn versucht, sich wieder irgendwie hochzuziehen, aber sie stolpert, fällt vorwärts, die Pfeile brechen ab, und diesmal schreit sie wirklich, kriecht nur noch durch Efeu und Moos und Büsche und hinter den Stumpf eines umgestürzten Baumes, ein Versteck nur auf Zeit, auf so kurze Zeit, ein Versteck so offensichtlich, dass es nur Sekunden dauern wird. Aber Finn ist nicht dumm, und schwach ist sie auch nicht. Nicht, wenn darauf ankommt. Ihre rechte Hand, die einzige noch bewegliche, lässt das Schwert los und packt das Messer, so fest sie kann. Sie versucht, zu atmen, und verdrängt die Tatsache, dass sie noch so viel atmen kann, nichts davon scheint ihren Körper zu erreichen, und ihre Brust ist schrecklich heiß und eisig kalt zur gleichen Zeit, atmet erst von alleine, im nächsten sind Atemzüge unmöglich, und ihr Herz stolpert ebenso wie Finn selbst.

Aber sie denkt an Aya.

Sie packt das Messer. Sammelt alle verfügbare Kraft. Hält die Luft an, spannt jeden einzelnen Muskeln ihres ganzen Körpers an, packt die Wurzeln des Baumstumpfes, dreht sich um, horcht auf Reiter und Rufe und Stille des Waldes und spürt Magie. Springt hoch, genug, um über den Baumstumpf zu ragen und werfen zu können, und mit aller Kraft wirft sie das Messer, sieht nur noch einen Mann vor sich, fokussiert auf ihn, als wäre er das Zentrum ihrer Welt, wirft das Messer mit allen Gedanken voller Hass, die sie ihm gegenüber hegt. Natürlich sehen sie alle sie. Natürlich fliegen Pfeile.)

Finn trinkt billigen Alkohol, der ihr den Hals verbrennt und Tränen in die Augen steigen lässt, aber langsam beginnt, sie träge zu machen. Benommen, und dieses Mal ist das gut. Alles betäubend.

(Natürlich trifft einer der Pfeile sie.)


Sechs

(Finn liegt auf Laub, kleinen Ästen und zwischen Büschen, neben sich einen Baum mit glatter Rinde. Der Name will ihr nicht einfallen, sie kann kaum ihre Gedanken auf diesen Baum lenken, auch wenn seine Blätter so schön grün über ihr leuchten in der klaren Frühlingsmorgensonne.)

Finn saß in der dunklen Ecke eines Schankraums, abgeschottet genug, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, in genug Entfernung zu der Prügelei, die vor der Theke begonnen hatte, dass kein verirrter Betrunkener auf ihren Tisch fallen konnte.

(Ein Gesicht beugt sich über sie, aber sie kann sich kaum erinnern, wer das ist. Sie sieht die Symbole auf seiner gepflegten, sorgfältig genähten Kleidung und nur mit Mühe und Not, als wäre ihr Gedächtnis nur noch ein träger Sumpf, erinnert sie sich, dass das ein Magier ist. In ihrem Mund ist eine klebrige, warme Flüssigkeit, und reflexartig muss sie husten, als sie sich daran zu verschlucken droht, und die Flüssigkeit fließt über Wange und Kinn, während Finn sich nur im Nebel ihrer Gedanken fragen kann, was das eigentlich ist. Und was für Schmerzen, die sie so lähmen. Sie erinnert sich nur mühsam. Ach, so mühsam. Das ist dein Vater, denkt sie, während sein harter, kalter Blick sie mustert. Drei Pfeile in der Brust, ein Blick, der in der Ewigkeit verschwindet, und kaum mehr fähig, auch nur zu blinzeln. Sie kann ja nicht einmal mehr wirklich denken.)

(Der Alkohol betäubte, aber Erinnerungen verschwanden nicht mehr. Und ihre Brust schmerzte.)

(„Lasst sie liegen.“, sagt der Mann über ihr, und seine Stimme klingt nach der eines Fremden. „Die Pfeile haben ihre Lunge getroffen, das überlebt sie nicht ohne magische Heilung, und sie hat nur noch Minuten. Hier wird sie so schnell kein Heiler mehr finden. Die Arbeit ist erledigt.“

„Wegen des Kopfgelds …“

Geld klirrt. Münzen glitzern über Serafin, als sie zu anderen geworfen werden. Ein letzter, kalter Blick, ein zufriedenes Nicken, nicht einmal ein letztes Wort, Pferdehufe, die sich entfernen, Gelächter von Männern.

Stille des Waldes. Und Finns Atem, der in ihren Ohren dröhnt, klingt wie eine Schüssel voller Kieselsteine. Jeder Atemzug ein Kampf. Jeder Atemzug flacher, später als der vorangegangene. Sie weiß irgendwie, dass sie stirbt. Und Tränen laufen aus ihren Augen und hinab. Das Messer, das sie geworfen hat, das Messer, wofür sie mit dem dritten Pfeil in der Brust bezahlt hat, hat den Magier in die Schulter getroffen. Ein schmerzhafter Treffer, aber längst nichts, weswegen er auch nur eine Miene verziehen würde. Eine kurze Heilung, und die Wunde würde sich wieder geschlossen haben. Wenn er die magische Heilung vollzog, nicht einmal mehr eine Narbe zurückbleibend.)

Finn blickte auf die Karten. 

Jahre waren vergangen, und die Wunden zu Narben geworden. Sie hatte Aya damals alles erklärt, und Aya wusste, weshalb Finn diese Ländereien, diese ganz bestimmten, immer meiden wollte. Aya hatte ihr versprochen, dass sie zurückkommen würde, wenn ihre Arbeit getan war, und Finn war geflüchtet. Dann gejagt worden.

(Die Blätter sind so grün und leuchtend, der Himmel so blau, so tief und rein blau, die Luft so klar, die Vögel singen und übertreffen sich gegenseitig mit ihren Konzerten, Finn riecht Erde und Blumen und klare, klare Morgenluft, Sonne wärmt den Wald langsam auf, und Finn stirbt.)

Sie erinnerte sich an das Sterben.

Jahre waren vergangen, und über das Dazwischen würde Finn nur mit einer Person reden. Nur mit dieser einen Elbin, die sie in diesen Jahren kennen gelernt hatte, mit der sie gereist war. Jahre waren vergangen, ehe Finn hatte hierher zurückgefunden. Ehe sie Aya wiedergefunden und nun endlich herausgekriegt, wo diese sich aufhielt zur Zeit.

(Blut verstopft ihren Hals, und Tränen fließen über ihr Gesicht, und sie denkt an Aya. Ob die jemals erfahren wird, dass Finn hier, im Wald, gestorben ist. Ein letzter Atemzug. Vogelsang. Sie glaubt nicht, dass die Kraft für noch mehr Atem noch hat. Versucht es. Ihr Brustkorb hebt sich nicht. Verweigert alles. Kalte Frühlingsluft auf dem Gesicht und warmes Blut.

Aya. Aya im Kopf, Aya in den Gedanken, immer nur Aya. Aya, Aya, Aya. Kein Atem mehr. Sie versucht es für Aya, aber ihr Brustkorb verweigert alles. Keine Kraft mehr.

Und Stille.)

Finn stolperte aus der Taverne, herausgescheucht vom Wirt zusammen mit den letzten Betrunkenen, und entfernte sich trotz alles Alkohols in ihrem System schnell und leise genug von jenen. Spürte die Übelkeit der Ausnüchterung und beginnende Klarheit, die die kalte Nachtluft mit sich brachte. Zerknitterte in ihrer verkrampften Hand die Karte, auf der sie eingezeichnet hatte, wohin Aya gefahren.

Direkt in die Ländereien jenes Barons, wo auch jener Magier lebte. Direkt dorthin. Wo Finn vor Jahren gestorben – und musste Aya das nicht irgendwie erfahren haben damals, irgendwie? – und trotz dem Aya doch wusste, was jener Magier für ein Mann war und was für Gefahr er und jeder hier im Umkreis für Serafin bedeuteten, hier, wo sie mehr als irgendwo anders Gefahr lief, erkannt und gejagt zu werden dank allzu korrekter Suchplakate. Sie stolperte durch die Nacht, und in ihrem Kopf rotierte, ungebremst vom Nebel des Alkohols, nur eine einzige Frage.

Warum bist du dahin zurückgefahren, wo ich gestorben bin, Aya? Warum bist du dorthin zurück, wenn du doch nach all der Zeit mit deiner Arbeit fertig sein müsstest, wenn du doch damals mitgekriegt haben musst, dass dein Arbeitgeber im Wald eine Landstreicherin, billige Söldnerin mit Kopfgeld, erledigt hatte, die unbefugt auf seine Ländereien eingedrungen war?

Warum, Aya? Warum?

Und die einzige Antwort, die Finn hat, ist, dass sie dorthin zurückkehren muss. Weil das der einzige Weg ist, Aya jemals wiederzufinden und die Wahrheit herauszufinden – warum Aya zurückgekehrt ist. Warum Aya sie gesehen und nicht erkannt hat.



„You’ll never know what I became because of you
Ten thousand promises, ten thousand ways to lose.”


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(Lyrics: Linkin Park - Powerless)

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