„You had it all, but you were careless and let it fall. You had it all, and I
was by your side – Powerless.“
Vier
Finn besuchte die
Postkutschenzentrale, erfragte Fahrpläne und studierte Landkarten und Pläne,
fragte nach den Fahrzeiten und erfuhr schließlich, wohin diese eine besondere
Kutsche gefahren.
(Als sie Aya sieht, nach all den Jahren, da sitzt Aya in einer
Postkutsche, die gerade auf die Stadttore zurollt, und Serafin selbst steht
inmitten der Marktbesucher, steht inmitten viel zu vieler Leute vor allem in
Anbetracht der Tatsache, dass sich die Kutsche von ihr entfernt, und all diese
Leute, all diese viel zu vielen Leute stehen in ihrem Weg, als sie sie alle
beiseite schubst und stößt, alle Rücksicht vergessen.)
„Finn,“, hatte Aya einmal
gesagt, „Erzähl doch mal etwas über dich.
Ich hab dir meine ganzen schmutzigen Geheimnisse verraten, aber du erzählst nie
etwas, behältst immer alle für dich. Das ist nicht fair.“ Mit einem Lächeln
hatte sie das gesagt und damit eine Tür in Finn aufgestoßen, die jener das
Lachen auf den Lippen gefrieren ließ und die Worte versiegen, mit denen sie
sonst doch immer so schnell.
Damals hatte ich alles, was ich wollte, denkt Finn, vor sich die
Karte, die ihr die Route zeigt, die jene wichtigste Postkutsche der weiten,
weiten Welt gefahren ist. Und wohin. Sie sitzt spätnachts in einer billigen
Spelunke vor dieser Karte, hat sich billigen Alkohol gegen die viel zu kalte
Frühlingsnacht geholt und ein tropfendes Talglicht und brütet über dieser
Kerze, mit zu wenig Alkohol, um das Denken sein zu lassen. Alles, was ich mir je hätte wünschen können. Ich hatte Aya. Wenig Geld,
immer noch Kopfgeld auf mich selbst ausgesetzt und keine Freunde. Aber ich
hatte Aya. Und ich hab damals gedacht, es reicht, wenn alles so bleibt. Ich
dachte, es reicht, sie muss nicht alles über mich wissen. Ohne nachzudenken hab
ich angenommen, es wäre besser, Aya niemals irgendetwas davon zu erzählen, und
dadurch hab ich sie losgelassen.
(„Du versteckst deine Geheimnisse, wo ich dir alles von mir erzählt
habe, selbst die schlimmen Dinge.“, sagt Aya, und sie blickt nicht weg, gibt
Finn nicht die Gnade, das alles einfach sein zu lassen. Zwingt sie, zu reden,
obwohl Finn an ihren eigenen Worten erstickt, weil sie merkt, dass sie gar
nicht erzählen kann, nicht darüber. „Aber ich beobachte dich, Finn. Ich kann
sehen, dass da sehr viel mehr hinter dir steckt. Schlimme Dinge, wie hinter
jedem. Blutige Dinge vielleicht.“)
Sie hatte Aya damals alles
versprochen. Sie zu beschützen. Sie nie anzulügen. Sie hatte Aya alles
versprochen, was diese verlangt hatte, und Aya hatte selten verlangt. Es waren
immer nur Finns verzweifelte Versuche gewesen, Aya bei sich zu behalten, die
Angst zu kontrollieren, dass sie eines Tages einen riesigen Fehler begehen
könnte. So viele Möglichkeiten, Aya zu verlieren, und während Finn versuchte,
Aya nicht festzuhalten, weil genau das Aya weglaufen ließ, malte sie sich
nachts und in einsamen Stunden jede einzelne mögliche Zukunft aus. Und in so
vielen verlor sie Aya auf sie viele Weisen.
(Nicht klammern, nicht klammern, nicht klammern. Sie hat so oft darüber
geschimpft, wie andere das tun, und du hast bei jedem dieser anderen gesehen,
dass Aya ihnen schließlich weggelaufen ist. Vertrau ihr. Nicht
klammern, Finn.)
Fünf
"I watched you fall apart and chased you to the end."
(Nicht klammern, nicht klammern, nicht klammern. Sie hat so oft darüber
geschimpft, wie andere das tun, und du hast bei jedem dieser anderen gesehen,
dass Aya ihnen schließlich weggelaufen ist. Vertrau ihr. Nicht klammern, Finn.
“Aya, bitte.”
Die hellen, fast grauen Augen sehen sie an. Lächeln nicht. „Was? Denkst
du, ich würde nicht gehen? Ich zwinge dich doch nicht, mitzukommen, Finn. Aber
was ist denn so schlimm daran?“
Finn beißt sich auf die Lippe. Dass es dieses spezielle Land, diese
spezielle Grafschaft ist, will sie rufen, will sie schreien, schlimm ist, dass
du dir ausgerechnet diesen Baron aussuchen musstest und dass dieser Baron
ausgerechnet in diesem Land, ausgerechnet auf dieser Burg leben muss!, aber sie
ist still. Sagt nichts, weil das, was sie sagen kann, nicht geht, und alle
anderen Worte ihr den Hals verstopfen.
Aya blickt sie an, wartet sehr lange ab, aber Finn kriegt kein Wort
heraus, und schließlich schüttelt Aya den Kopf und schließt ihre Satteltasche.
„Für mich ist das eine einmalige Chance, mir einen Ruf zu verdienen.“, sagte
sie. „Die Arbeit ist für mich ziemlich einfach, ich soll ihm einfach nur ein
Buch abschreiben – und für die Zeit habe ich Kost, Logis und nach Prüfung der
Arbeit eine sehr großzügige Bezahlung sowie ein Empfehlungsschreiben. Weißt du
überhaupt, was das heißt? Geld verdienen wäre nie mehr ein Problem. Ich könnte
mir ein Zimmer nehmen, anstatt in den Wintern mich in schmutzige Ecken
verkriechen zu müssen.“
Serafin weiß, dass das für Aya die größte Chance des Lebens ist. Aber
sie kann nicht mitkommen.
„Wir sehen uns wieder, wenn ich fertig bin, wenn du wirklich nicht
mitkommen willst. Aber ich versteh’s nicht, Finn. Warum kannst du mir das nicht
erzählen? Vertraust du mir doch nicht?”
Finn schweigt.
“Wir würden uns danach nicht wiedersehen.”, sagt sie. „Ich kann nicht
lange an einem Ort bleiben, du weißt nicht, wie lange du dort brauchen wirst.
Und er wird dich dabehalten, wenn deine Arbeit ihm gefällt. Du wirst bei ihm
bleiben, ziemlich sicher, weil er dir Geld und ein Bett und Essen geben wird. Unterkunft.
Und wir werden uns aus den Augen verlieren.”
„Finn.“, murmelt Aya, und ihr Blick wird etwas weicher. „Ich würde dich
nicht vergessen. Niemals.“
„Ja, das sagst du jetzt, aber du wirst es.“, fährt Finn fort und kann
Aya nicht in die Augen sehen, vergräbt die Hände tief in den abgewetzten
Manteltaschen, als würde sie auch sich selbst da drin verstecken können.
„Du kannst doch nachkommen.“
Finn knirscht mit den Zähnen. Das kann sie nicht, aber wenn sie Aya
nicht den Grund dafür erklärt, dann wird diese es auch nicht verstehen.)
Finn kann sich so gut an damals
erinnern. Aya ist gegangen, dorthin, und die letzten Tage waren nicht schön
gewesen. Sie hatten sich gestritten über unnötige Kleinigkeiten und sich
angeschwiegen, ohne dass es ein schönes Schweigen gewesen wäre. Und der Abschied erst.
(In letzter
Verzweiflung packt Finn Aya am Arm. Das hat sie nie gemacht. „Geh nicht. Bitte.“
“Lass mich los.” Aya sieht sie aus schmalen Augen an, und Finn weiß
doch eigentlich, was das heißt, die schmalen, zusammengepressten Lippen, der
völlig verkrampfte Körper, aber sie kann Aya nicht loslassen. Denn Finn hat Angst. Schreckliche Angst.
„Erst, wenn du sagst,
dass du nicht gehst.“
“LASS MICH LOS!” Gewaltsam reißt Aya sich aus ihrem Griff, Finn
stolpert zurück, lässt halb freiwillig los, und hasst sich selbst, wird von
Angst verschluckt und von einem Ekel und Abscheu vor sich selbst erfasst, der
sie fast würgen lässt. Aya steigt so schnell auf ihr Pferd, wie sie schafft,
sieht Finn nur noch einmal an, enttäuscht, zitternd, Tränen in den Augen, aber
sie sagt nichts. Sie reitet davon. Ein schmaler Rücken an einem sonnigen, viel
zu kalten Herbsttag, an dem leuchtende Blätter durch die Sonnenstrahlen tanzen,
und Finn schlägt solange auf die Pflastersteine ein, bis Blut von ihren Händen
tropft. Sie sieht Aya davonreiten und weiß, dass sie den schlimmsten Fehler
begangen hat, der bei Aya jemals möglich war. So unvorsichtig. So
kraftlos, beherrscht von nackter Angst.)
Und immer noch, nach all den Jahren, spürt Finn
diese Leere in sich. Damals dachte sie, beherrscht erst von Angst, dann
von falschem, dummen Stolz, diese Leere würde sich mit der Zeit geben. Dass sie
auch ohne Aya leben könnte. Versuchte, die ganze Angelegenheit einfach
abzuhaken und zu vergessen oder zumindest abzuschließen. Und sie merkte, dass
sie das nicht konnte. Im Nachhinein dachte Finn jetzt, dass sie genau das
eigentlich schon immer gewusst hatte. Jahre hatte sie trotzdem gebraucht.
(Über einen dünnen Kontakt findet Finn heraus, dass Aya tatsächlich noch
dort ist. Bei diesem Baron. Diesem Magier. Sie
ignoriert ihre Angst, versucht es zumindest, denkt nur an Aya. Versucht erst,
einen Brief zu schreiben, doch auf den erhält sie nie eine Antwort. Vielleicht
wollte Aya nicht antworten – vielleicht hat dieser Brief sie aber auch nie
erreicht, und daran klammert sich Finn. Resolute Entschlossenheit ersetzt
Angst, und sie schwört sich, nicht eher aufzugeben, Aya zu erreichen, ehe jene
nicht irgendeine Art von deutlicher Antwort gegeben hat, ehe sie nicht noch
einmal mit Aya reden konnte. Aya, Aya, Aya. Kaum etwas anderes
mehr im Kopf. Finn schmiedet Pläne. Finn schneidet ihre Haare und färbt
sie, Finn hüllt sich in dunkle Lumpen, Finn fährt ein Stück, ehe der Kutscher
sie bemerkt und sie im Straßengraben landet, bei der Postkutsche mit, und sie
fährt zu Aya. Sie versucht, die Angst zu vergessen, die sich in ihrem Magen
einnistet, als sie sich in seinem bewegt, seinem Einflussbereich. Er könnte überall sein, so wie Aya, und in jeder
Menschenmenge sucht sie eines dieser beiden Gesichter, hoffend und fürchtend.)
Der Magier, der zusammen mit dem
Baron diese Ländereien damals wie heute beherrschte und bestellen ließ, war
Finns Vater. Ein strenger Mann, unverheiratet, doch ohne Zurückhaltung, wenn es
um Besuche der Freudenhäuser ging, mit niedrigen Ansprüchen. Finns Mutter
mochte zwar eine Angehörige des Elbenvolks gewesen sein, die doch immer so
anmutig und schön sein sollten, doch diese Frau war das schwarze Schaf einer
ganzen Art gewesen. Aufgequollen durch den Alkohol, verbraucht und alt. Kein
Wunder, dass der Magier nicht aufgepasst hatte. Wer weiß schon, wie, aber Finn war geboren worden.
(„Halb Magier, halb Elbin.”, wisperte Finn, im Fenster hockend,
verborgend zwischen den Ranken von wildem Wein, der sich hier üppig am Haus
hinaufrankte. Vor sich Aya, die nicht schlecht gestaunt und geweint und gelacht
hatte, und hinter sich einen halsbrecherischen Einbruch auf das Gelände des
Mannes, den sie so hasste und fürchtete. „Ich hab magische Kräfte, aber die
kann ich nicht konrollieren. Ist wie eine Zeitbombe, wenn ich zu
zaubern versuche. So ist meine Mutter gestorben – verbrannt. Nur, weil
ich wütend war. Aber sie war eine schlechte Frau. Immer betrunken, und hat mich
nur geschlagen.” Sie sieht erste Spuren von Furcht in Ayas Augen, und deshalb
beschwichtigt sie sie sogleich: “Mittlerweile hab ich ein Siegel auf dem
Rücken, das unterdrückt die Magie. Relativ schwach, aber für mich reicht es
allemal. Ich bin also eigentlich wie ein Mensch – selbst meine Mutter war keine
reine Elbin, von ihr hab ich fast nichts geerbt. Aber nachdem ich meine Mutter
in diesem Unfall umgebracht hatte, wurde mein Vater auf die ganze Sache
aufmerksam, er hatte gemerkt, dass dort Magie im Spiel gewesen war, und er hat
mich gefunden. Mich hierher gebracht. Gefangen gehalten mehr
alles andere. Hat alles erfahren. Ein Kind von einer Elbenhure, das noch
nicht einmal zuverlässig Magie wirken konnte und auch keine Chance hatte, das
jemals erfolgreich zu lerne, unehelich – was für eine Schande für ihn.”
Ganz, ganz leise lacht Finn, auch wenn ihr nicht nach Lachen zumute
ist, aber sie lacht immer, denn das hilft, sich selbst ganz zu halten. Das
hilft, um nicht vor Angst zu erstarren.
„Hat also den Auftrag gegeben, mich umzubringen. Loszuwerden,
unauffällig. Ich konnte fliehen, und er hat’s spitzgekriegt, hat ein Kopfgeld
auf mich aussetzen lassen. Deshalb hab ich diesen Ländereien niemals nahe
kommen wollen, deshalb konnte ich nicht mitkommen, Aya. Aber ich war dumm. So
unglaublich dumm und unglaublich ängstlich, weil ich nichts davon sagen konnte.
Ich konnte einfach nicht. Weil ich das noch nie jemandem erzählt habe. Ich
hatte all das so tief vergraben, dass ich es nicht mehr geschafft habe, etwas
davon wieder ans Licht zu zählen. Ich hatte immer nur Angst, Aya, so
unglaubliche Angst, und Angst lässt mich unglaublich dumme Dinge tun. Es tut mir Leid. Alles. So schrecklich Leid.”
In Ayas Augen stehen Tränen, als sie Finn umarmt, so fest, und Finn
kann nichts tun, weil sie einfach keine Ahnung hat, was. Sie steht einfach nur
ungeschickt da, klammert sich schließlich selbst an Aya, die ihr immer wieder
durch die Haare streicht, etwas, was Finn so, so schrecklich vermisst hat, dass
sie jetzt gleichzeitig lachen und heulen könnte, und schließlich sagt Aya: „Du
bist so ein kleiner Dummkopf. So ein verdammter Sturkopf. Ich war
doch an deiner Seite, Finn. Du hast das alles in dir rumgetragen, all
die verdammte Zeit, und ich war die
ganze Zeit an deiner Seite und unfähig, irgendetwas zu tun, weil du nichts
sagen wolltest. Arme Finn.“
Und Finn weint. Steht in einem Gästezimmer ihres Vaters, des Mannes,
der ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt und nicht zögern würde, sie augenblicklich
zu töten, mit der Liebe ihres Lebens, und weint, während sie gleichzeitig nur
noch aus Glück besteht.
Finn, die doch immer die Erwachsenere war. Die Ältere, immerhin
sechsundzwanzig Jahre, und so harte Jahre.
Und viel zu schnell muss sie sich wieder in der kalten Frühlingsnacht,
einer Zeit, in der die Tage den Sommer erahnen lassen und die Nächte noch den
Winter atmen, in wildem Wein verstecken und völlig reglos mit Finsternis
verschmelzen. Finn schleicht durch die
Dunkelheit, ihr Schwert in der Hand, wenn sie nicht gerade klettern
muss, ein zerkratztes, schartiges Kurzschwert, das schwach an einen Säbel
erinnert, aber ihr gute Dienste leistet, schleicht und zittert.)
Finn trank ihren billigen Fusel
in der dunklen Spelunkenecke, vor sich Karten. Sie hatte nach der ganzen Zeit
viele Erinnerungen verloren, vieles unklar und diffus, Namen verloren, wo Finns
Namensgedächtnis nie das Beste gewesen war. Aber an diese Stunden erinnerte sie
sich sehr gut. An Aya, ihr Gesicht eingebrannt. An die Flucht vom Anwesen, ihr
Schwert in der einen Hand, das auch jetzt an ihrem Gürtel hing, ihr Messer in
der anderen, das sie nur kurze Zeit später verloren hatte. Sie erinnerte sich an
den ersten Wächter, der sie entdeckte, und sie tötete ihn, während er ihr nur
eine tiefe Schnittwunde auf der linken Schulter zufügte. Die Narbe schmerzte
immer noch.
(Finn ignoriert die Schmerzen und rennt nur noch in die Nacht, rennt zum
Wasser, rennt in den Wald, weil sie weiß, dass dieser Tod ihr nur Stunden
gekauft hat, allerhöchstens. Noch auf den Feldern allerdings hört
sie Schreie. Rufe. Klirren und den dumpfen Knall sich wieder
schließender Tore. Hört galoppierende Pferde. Er weiß, dass
sie da ist. Irgendwo, und er ist fester denn je entschlossen, sie endlich zu
finden. Finn läuft durch Finsternis, durch die Reihen von Korn und Rüben. Läuft
durch Bachläufe, auf den dunklen Wald zu, und bleibt in den Bachläufen, während
am Horizont der Morgen graut.)
Finn trank, trank den billigen
Fusel, aber die Erinnerungen waren da und ließen sich nicht aufhalten, die
Karte auf dem Tisch vor ihr verfolgte sie und fesselte ihren Blick, zog sie in
sich hinein, hypnotisierte und erinnerte sie. Verhöhnte sie, und Finn glaubte
fast, wieder die Rufe des Magiers und der Soldaten zu hören, die sich an einem
wunderschönen Frühlingsmorgen durch einen grünleuchtenden, duftenden Wald
kämpfen und nur bloße Steinwürfe von ihrem Ziel entfernt sind. Die Bögen haben
sie bereits beim ersten Licht herausgeholt.
(Finn erreicht den Wald, stolpert in die Bäume, ihre Lunge brennt,
explodiert fast, von ihrer Schulter tropft Blut und der Arm hängt nutzlos
herab. Sie hört Reiter hinter sich, greift mit der anderen, noch gesunden Hand
ihr Schwert verbissen fester, dreht sich hinter einen schützenden schmalen Baum
und halb den Kopf zur Seite, sieht im selben Moment den Reiter seitlich auf
sich zukommen, Bogen und Pfeil schon
nicht mehr im Anschlag, im selben Moment, als sie das sieht, trifft der
abgeschossene Pfeil eben jenes versteckten Reiters sie, im selben Moment, in
dem Finn das Schwert zur Abwehr erhoben. Die Klinge teilt den Bogen des
Reiters, bohrt sich in seinen Bauch und reißt ihn vom Pferd, aber das Schwert
fällt Finn aus der Hand und sie selbst halb zu Boden, sich nur durch schiere
Willenskraft nicht schreiend an dem Baum festhaltend so fest, dass ihre
Fingerspitzen an der rauen Rinde aufreißen.)
Finn legte eine Hand auf die
Brust und spürte die Narbe dieses Pfeils unter dem Hemd. Stechend. Ein tiefer,
tiefer Schmerz, der ihr immer noch den Hals abschnürte, kurz unter dem
Schlüsselbein. Sie erinnerte sich an die Schmerzen und trank … der Fusel war
alle. Fluchte.
(Sie rennt. Sie weiß nicht, wie, sie hört die Rufe hinter sich der
anderen Reiter, die den Aufruhr eben natürlich gesehen haben, die nun sehr
genau wissen, wo sie ist, unter ihnen der Magier, mit ernster Miene und klaren
Augen, der ihr nur eines wünscht und das schon immer sehr, sehr klar gemacht
hat. Kein Mann, der Gnade walten lässt.
In Bäume stolpert sie.
Durch Büsche. Zerkratzt ihre Haut und zerreißt ihre Kleidung an
Dornenbüschen und kümmert sich nicht herum, atmet Luft, die sich wie Säure in
ihren Lungen anfühlt, jeder Atemzug ein Kampf. Finn rennt.
Hinter sich Äste brechen, sie duckt sich, fällt zu Boden und rollt sich
ab, sodass sie dem Reiter entgegensieht, das Schwert schwingt sie mehr blind
als alles andere und bohrt es dem Pferd in die Brust, es fällt, begräbt seinen
schreienden Reiter unter sich, und einer der anderen Reiter, der noch viel
weiter hinten ist, schießt einen Pfeil ab, der sie trifft.)
Finn war fast, als würde sie
wieder nicht atmen können, raufte sich die Haare und starrte die Karte an, als
könne sie irgendetwas ändern. Sie spürte die erste Narbe unter dem linken
Schlüsselbein, die sich anfühlte wie ein tief sitzender Dorn, nur unendlich
viel größer, schmerzlicher, und die zweite, wo der Pfeil ziemlich zentral auf
das Brustbein getroffen hatte, daran abgerutscht und seitlich eingedrungen war.
In die Lunge. Sie steht auf, muss innehalten, als der Alkohol über sie
hinwegrauscht und es ihr schwarz vor Augen wird, stolpert kontrolliert zum
Tresen und bestellt neuen Fusel. Den allerbilligsten. Weil es für heute abend
keine andere Möglichkeit mehr gibt. Und die Narben brennen. Das tun sie oft.
(Finn versucht, sich wieder irgendwie hochzuziehen, aber sie stolpert,
fällt vorwärts, die Pfeile brechen ab, und diesmal schreit sie wirklich,
kriecht nur noch durch Efeu und Moos und Büsche und hinter den Stumpf eines
umgestürzten Baumes, ein Versteck nur auf Zeit, auf so kurze Zeit, ein Versteck
so offensichtlich, dass es nur Sekunden dauern wird. Aber Finn ist nicht dumm,
und schwach ist sie auch nicht. Nicht, wenn darauf ankommt. Ihre rechte Hand,
die einzige noch bewegliche, lässt das Schwert los und packt das Messer, so
fest sie kann. Sie versucht, zu atmen, und verdrängt die Tatsache, dass sie
noch so viel atmen kann, nichts davon scheint ihren Körper zu erreichen, und
ihre Brust ist schrecklich heiß und eisig kalt zur gleichen Zeit, atmet erst
von alleine, im nächsten sind Atemzüge unmöglich, und ihr Herz stolpert ebenso
wie Finn selbst.
Aber sie denkt an Aya.
Sie packt das Messer.
Sammelt alle verfügbare Kraft. Hält die Luft an, spannt jeden einzelnen
Muskeln ihres ganzen Körpers an, packt die Wurzeln des Baumstumpfes, dreht sich
um, horcht auf Reiter und Rufe und Stille des Waldes und spürt Magie. Springt
hoch, genug, um über den Baumstumpf zu ragen und werfen zu können, und mit
aller Kraft wirft sie das Messer, sieht nur noch einen Mann vor sich,
fokussiert auf ihn, als wäre er das Zentrum ihrer Welt, wirft das Messer mit
allen Gedanken voller Hass, die sie ihm gegenüber hegt. Natürlich sehen sie alle sie. Natürlich fliegen Pfeile.)
Finn trinkt billigen Alkohol, der
ihr den Hals verbrennt und Tränen in die Augen steigen lässt, aber langsam
beginnt, sie träge zu machen. Benommen, und dieses Mal ist das gut. Alles
betäubend.
(Natürlich trifft einer der Pfeile sie.)
Sechs
(Finn liegt auf Laub, kleinen Ästen und zwischen Büschen, neben sich
einen Baum mit glatter Rinde. Der Name will ihr nicht einfallen, sie kann kaum
ihre Gedanken auf diesen Baum lenken, auch wenn seine Blätter so schön grün
über ihr leuchten in der klaren Frühlingsmorgensonne.)
Finn saß in der dunklen Ecke
eines Schankraums, abgeschottet genug, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,
in genug Entfernung zu der Prügelei, die vor der Theke begonnen hatte, dass
kein verirrter Betrunkener auf ihren Tisch fallen konnte.
(Ein Gesicht beugt sich über sie, aber sie kann sich kaum erinnern, wer
das ist. Sie sieht die Symbole auf seiner gepflegten, sorgfältig genähten
Kleidung und nur mit Mühe und Not, als wäre ihr Gedächtnis nur noch ein träger
Sumpf, erinnert sie sich, dass das ein Magier ist. In ihrem Mund ist eine
klebrige, warme Flüssigkeit, und reflexartig muss sie husten, als sie sich
daran zu verschlucken droht, und die Flüssigkeit fließt über Wange und Kinn,
während Finn sich nur im Nebel ihrer Gedanken fragen kann, was das eigentlich ist.
Und was für Schmerzen, die sie so lähmen. Sie erinnert sich nur mühsam. Ach, so
mühsam. Das ist dein Vater, denkt
sie, während sein harter, kalter Blick sie mustert. Drei Pfeile in der Brust,
ein Blick, der in der Ewigkeit verschwindet, und kaum mehr fähig, auch nur zu
blinzeln. Sie kann ja nicht einmal mehr wirklich denken.)
(Der Alkohol betäubte, aber
Erinnerungen verschwanden nicht mehr. Und ihre Brust schmerzte.)
(„Lasst sie liegen.“, sagt der Mann über ihr, und seine Stimme klingt
nach der eines Fremden. „Die Pfeile haben ihre Lunge getroffen, das überlebt
sie nicht ohne magische Heilung, und sie hat nur noch Minuten. Hier wird sie so
schnell kein Heiler mehr finden. Die Arbeit ist erledigt.“
„Wegen des Kopfgelds …“
Geld klirrt. Münzen
glitzern über Serafin, als sie zu anderen geworfen werden. Ein letzter, kalter
Blick, ein zufriedenes Nicken, nicht einmal ein letztes Wort, Pferdehufe, die
sich entfernen, Gelächter von Männern.
Stille des Waldes. Und Finns Atem, der in ihren Ohren dröhnt, klingt
wie eine Schüssel voller Kieselsteine. Jeder Atemzug ein Kampf. Jeder Atemzug
flacher, später als der vorangegangene. Sie weiß irgendwie, dass sie stirbt.
Und Tränen laufen aus ihren Augen und hinab. Das Messer, das sie geworfen hat,
das Messer, wofür sie mit dem dritten Pfeil in der Brust bezahlt hat, hat den
Magier in die Schulter getroffen. Ein schmerzhafter Treffer, aber längst
nichts, weswegen er auch nur eine Miene verziehen würde. Eine kurze Heilung,
und die Wunde würde sich wieder geschlossen haben. Wenn er die magische Heilung
vollzog, nicht einmal mehr eine Narbe zurückbleibend.)
Finn blickte auf die Karten.
Jahre waren vergangen, und die
Wunden zu Narben geworden. Sie hatte Aya damals alles erklärt, und Aya wusste,
weshalb Finn diese Ländereien, diese ganz bestimmten, immer meiden wollte. Aya
hatte ihr versprochen, dass sie zurückkommen würde, wenn ihre Arbeit getan war,
und Finn war geflüchtet. Dann gejagt worden.
(Die Blätter sind so grün und leuchtend, der Himmel so blau, so tief und
rein blau, die Luft so klar, die Vögel singen und übertreffen sich gegenseitig
mit ihren Konzerten, Finn riecht Erde und Blumen und klare, klare Morgenluft,
Sonne wärmt den Wald langsam auf, und Finn stirbt.)
Sie erinnerte sich an das
Sterben.
Jahre waren vergangen, und über
das Dazwischen würde Finn nur mit einer Person reden. Nur mit dieser einen Elbin,
die sie in diesen Jahren kennen gelernt hatte, mit der sie gereist war. Jahre
waren vergangen, ehe Finn hatte hierher zurückgefunden. Ehe sie Aya
wiedergefunden und nun endlich herausgekriegt, wo diese sich aufhielt zur Zeit.
(Blut verstopft ihren Hals, und Tränen fließen über ihr Gesicht, und sie
denkt an Aya. Ob die jemals erfahren wird, dass Finn hier, im Wald, gestorben
ist. Ein letzter Atemzug. Vogelsang. Sie
glaubt nicht, dass die Kraft für noch mehr Atem noch hat. Versucht es. Ihr Brustkorb hebt sich nicht. Verweigert alles. Kalte
Frühlingsluft auf dem Gesicht und warmes Blut.
Aya. Aya im Kopf, Aya in den Gedanken, immer nur Aya. Aya, Aya, Aya. Kein Atem mehr. Sie versucht es für Aya, aber ihr
Brustkorb verweigert alles. Keine Kraft mehr.
Und Stille.)
Finn stolperte aus der Taverne,
herausgescheucht vom Wirt zusammen mit den letzten Betrunkenen, und entfernte
sich trotz alles Alkohols in ihrem System schnell und leise genug von jenen.
Spürte die Übelkeit der Ausnüchterung und beginnende Klarheit, die die kalte
Nachtluft mit sich brachte. Zerknitterte in ihrer verkrampften Hand die Karte,
auf der sie eingezeichnet hatte, wohin Aya gefahren.
Direkt in die Ländereien jenes
Barons, wo auch jener Magier lebte.
Direkt dorthin. Wo Finn vor Jahren gestorben – und musste Aya das nicht irgendwie
erfahren haben damals, irgendwie? – und trotz dem Aya doch wusste, was jener
Magier für ein Mann war und was für Gefahr er und jeder hier im Umkreis für
Serafin bedeuteten, hier, wo sie mehr als irgendwo anders Gefahr lief, erkannt
und gejagt zu werden dank allzu korrekter Suchplakate. Sie stolperte durch die
Nacht, und in ihrem Kopf rotierte, ungebremst vom Nebel des Alkohols, nur eine
einzige Frage.
Warum bist du dahin zurückgefahren, wo ich gestorben bin, Aya? Warum
bist du dorthin zurück, wenn du doch nach all der Zeit mit deiner Arbeit fertig
sein müsstest, wenn du doch damals mitgekriegt haben musst, dass dein Arbeitgeber im Wald eine
Landstreicherin, billige Söldnerin mit Kopfgeld, erledigt hatte, die unbefugt
auf seine Ländereien eingedrungen war?
Warum, Aya? Warum?
Und die einzige Antwort, die Finn
hat, ist, dass sie dorthin zurückkehren muss. Weil das der einzige Weg ist, Aya
jemals wiederzufinden und die Wahrheit herauszufinden – warum Aya zurückgekehrt
ist. Warum Aya sie gesehen und nicht erkannt hat.
„You’ll never know
what I became because of you
Ten thousand promises,
ten thousand ways to lose.”
________________________________________________________________________________________
(Lyrics: Linkin Park - Powerless)