„Ich hab ihn
gefunden.“, sagte Kvothe leise und überrascht, und ohne darauf zu achten, ob
Sam und Janne ihm folgten, lief er einfach los. Janne fluchte leise und rannte
hinter ihm her. „Kvothe!“, rief sie. „Warte!“
Kvothe blieb
stehen, in einer menschenleeren Gasse, über seinem Kopf Wäscheleinen zwischen
den engen Häusern gespannt. Janne kam es vor, als könnte sie ebenfalls den Wind
wispern hören, aber sie folgte Kvothe in die Gassen Venedigs, und Sam ließ
beide nicht aus den Augen. Sie folgten Kvothe durch enge Gassen, wo nur über
ihnen ein Streifen bleigrauen Himmels schwebte, über schmale Steinbrücken,
unter denen tintenschwarzes Wasser floss, undurchdringbar für jeden Blick, so
sehr Janne sich auch bemühte, etwas darin zu erkennen, folgten Kvothe tiefer in
Venedig hinein, wo der Wind kaum mehr war als ein Hauch, und auf breitere
Straßen, wo links und rechts geöffnete Läden warmes Öllampenlicht und Gerüche
nach frischem Backwerk, nach Kaffee und Schokolade verbreiteten. Jannes Magen
knurrte, und sie sah Sams hageres Gesicht und Kvothes schmale Miene an. Sie
alle drei waren zerlumpt und ausgezehrt, Kvothe der einzige, der ein paar
Münzen besaß – Münzen, die nicht für mehr als ein müdes Lächeln reichten. Als
Kvothe auf einem großen, mit kahlen Bäumen gesäumten Platz anhielt, dort stand
und den Kopf schieflegte, auf den Wind horchte, der hier nur schwach wehte,
trank Janne klares Wasser aus einem Brunnen, Sam ebenfalls, und dann lief
Kvothe schon weiter.
„Es riecht nach
Asche und Funken.“, wisperte er, mehr zu sich selbst als zu irgendjemandem
sonst.
„Kvothe lauscht
fast die ganze Zeit dem Wind.“, sagte Janne leise zu Sam, während sie über
uralte Pflastersteine liefen. „Selbst, wenn der Wind ihm so mühelos gehorcht,
wie ihr alle denkt – kostet ihn das nicht trotzdem eine Unmenge an Kraft?“
Sam antwortete ihr
nicht darauf, aber er ließ Kvothe nicht aus den Augen und Janne sah die ewige
Sorge in dem stillen, ernsten Gesicht.
Die Straßen, über
die Kvothe sie führte, wurden breiter, mehr Geschäfte, mehr Leute, die Straßen
voller. Sie überquerten eine Brücke, die auf beiden Seiten von geschlossenen
Läden gesäumt war, und erreichten nach einer schmalen Gasse einen riesigen
Platz. Eben noch zwischen Mauern so dicht, dass Janne die Arme nicht hätte
ausstrecken können, und dann vor einer Kirche, wie sie so eine riesige, so
prunkvolle niemals gesehen hatte. Säulen und Marmor, feinste stilisierte
Bilder, über und über goldgeschmückt – erst stand Janne nur da und fragte sich,
wie so etwas im Sonnenschein aussehen mochte. Dann sah sie den Feuerspucker.
Wenn sie später
jemandem von Silva erzählte, dann würde sie auf ewig an diesen Moment denken,
unter bleigrauem Himmel in einer Stadt voller Gold, Wasser, Geistern und
Geisterlichtern. „Der Mann, der das Feuer
atmet.“, würden ihre Worte sein, wann immer sie von Silva sprach.
Sie lief in Kvothe
hinein und ließ ihn nach vorne stolpern, als sie so zu dem Feuerspucker hinüber
starrte, dass sie völlig übersah, wie Kvothe stehen geblieben war.
„Das ist er.“,
sagte er und deutete auf den Mann, der mit nacktem Oberkörper, in sicherem
Abstand von fast allen Leuten umringt, die sich auf diesem Platz befanden, den
grauen Wintertag mit in den Bleihimmel gespeitem Feuer erhellte.
„Er atmete das Feuer wie ein Drache.“, würde Janne erzählen.
„Wie Kvothe dem Wind lauschte und mit ihm flüsterte, den Wind anbrüllen konnte,
als wäre er selbst der Sturm, so atmete Silva das Feuer. Sein Gesang klang wie
das Knistern der Flammen, erst das Brüllen eines Flammeninfernos, dann das
sanfte Glühen einer kleinen Kerze. Er war nicht wie Kvothe, aber er konnte das
Feuer rufen, und wenn Feuer erst einmal da ist und kleine Flammen gehegt
werden, dann kann es trotzdem Länder zerstören.“
„Bei den Feuersängern ist das mit dem Feuer etwas
anders als bei den meisten Sängern. Sie werden mit dem Feuer in sich geboren,
sie atmen es, sie müssen sich beherrschen, es nicht zu schüren, anstatt sich anzustrengen wie
die anderen Sänger. Sie rufen es nicht, sie halten es zurück. Sie beherrschen
sich pausenlos, lassen nur kleine Flammen schlagen, weil sie ihre Umgebung
nicht in Brand setzen wollen.“
Bei diesen Worten wird Kvothes Blick weit, weit in die
Ferne gleiten, und Janne wird denken So ist es bei ihm auch. Es ist nicht
anstrengend, zu singen, sondern ein so natürlicher Vorgang wie Atmen. Sie
werden süchtig davon, und in ihnen tobt ein Sturm oder lodert ein Feuer, dass
sie tief in sich drin behalten müssen, wenn sie nicht verletzen und zerstören
wollen. Sie wird Schmerz in Kvothes
Gesicht sehen – und bitterste, tiefste Sehnsucht. Der Ausdruck eines
eingesperrten Tieres.
„Ein Feuermagier.“,
fragte Janne leise und spürte kaum, wie Sam neben sie und Kvothe trat.
„Wir sollten
warten, bis er fertig ist und sich die Leute wieder zerstreut haben.“, sagte
Sam leise, und müde ließ Janne sich auf die Steinstufen vor dem langen, hohen
Arkadengang eines Gebäudes sinken, das wie ein Palast einen Teil des Platzes
umfasste. Sam ging irgendwohin und kam mit einem klebrigen, warmen Gebäckstück
wieder, dass er in zwei Teile brach und Janne das eine, Kvothe das andere in
die Hände drückte.
„Was ist mit dir?“,
fragte Kvothe, obwohl er in seinen Augen den gleichen Hunger sah, der auch ihm
den Magen zernagte. Sam schüttelte nur den Kopf.
„Ihr habt es
nötiger.“, sagte er. „Ich besorge später noch was.“ Unser Geld ist doch alle, dachte Janne. „Janne braucht das Essen
dringender und du erschöpfst dich, indem du fast pausenlos mit dem Wind
flüsterst.“
Kvothe hatte den
Anstand, auch nur ein wenig schuldbewusst dreinzusehen, brach von seinem
Gebäckstück aber trotzdem etwas ab und reichte es Sam. „Du brauchst es auch.
Danke.“
Wortlos nahm Sam es
und setzte sich neben die beiden, doch als Janne ihm auch etwas von ihrem
Anteil geben wollte, schob er ihre Hand sanft, aber bestimmt zurück. „Danke,
Janne. Aber du brauchst es dringender.“
Sie beobachteten
den Feuerspucker eine Weile wortlos, der sie nicht bemerkte, und Janne glaubte
fast, ab und an bei einem besonders hohen Feuerball die Wärme des Feuers auf
der Haut spüren zu können. Fast hypnotisch war es, das glühende Feuer zu
beobachten, das der Mann mit dem verzottelten, schmutzigen strohblonden Haaren
aus dem Nichts rief, und sie spürte, wie die Müdigkeit in ihren Knochen sie
übermannte, sie immer schläfriger wurde, die Augenlider immer schwerer. Irgendwann
lehnte sie einfach den Kopf gegen Kvothes Schulter schloss die Augen für einen Moment … nur für einen
Moment.
Vorsichtig drehte
Kvothe den Kopf und sah Janne an, dann rüber zu Sam. „Wir sollten, bevor wir
irgendetwas anderes unternehmen, erst irgendwie Geld verdienen und dann eine
Unterkunft finden.“
Sam nickte, zog
seinen Umhang etwas mehr so zurecht, dass das Schwert auf seinem Rücken
verdeckt wurde. Je unauffälliger und harmloser sie aussahen, desto besser, und
Kvothe mit seinen feuerroten Haaren war schon selbst wie eine wandelnde Fackel.
Dafür war die dichte Wolkendecke gut – sie erlaubte es ihm, die Kapuze
aufzusetzen und damit nicht noch auffälliger zu wirken.
„Wie lange bist du
schon TotenRitter, Sam?“, fragte Kvothe den Mann, der ihnen Geheimnisse seines
Ordens verraten hatte und über den sie absolut nichts wussten. Nein, keine Geheimnisse, korrigierte er
sich in Gedanken, jedenfalls nicht die
Details. Die hat er dem Reverend verschwiegen, und uns bisher auch.
Es war eine
einfache Frage, aber Sam überlegte trotzdem lange. „Seit ich vierundzwanzig
war.“, antwortete er schließlich.
„Warum wird man
TotenRitter?“
Auch jetzt
überlegte Sam wieder, blickte dann zu Janne. „Als Kote Janne gefunden hat und
mit ihr floh, da floh eine Freundin von ihr mit ihnen, die in ihrem Haushalt
gearbeitet hatte. Sie war zwanzig, viel älter als Janne, ihr eine große
Schwester gewesen, und sie weigerte sich, Janne im Stich zu lassen. Als wir die
beiden fanden, weigerte sie sich, nun ihre Verantwortung abzutreten, und ließ
sich zur Ritterin ausbilden. Sie wollte ebenfalls TotenRitter werden, und das
hätte sie geschafft. Sie war nur eine junge Frau, ohne einen besonders
kräftigen Körper oder hohe Ausdauer. Trotzdem hätte sie es geschafft. Weil sie
entschlossen war, Janne zu beschützen.“
Sam blickte Kvothe
in die Augen, sein heller, klarer, grauer Blick so ernst wie immer. „Es geht
darum, ob du etwas beschützen willst. Beschützen.“
Lächelnd strich
Kvothe der schlafenden Janne über die Haare und zog ihren abgewetzten Umhang
etwas enger um sie, sah ihr müdes, überschattetes Gesicht an. Noch ein Mädchen
und schon mehr Last auf den Schultern, als irgendjemand sie tragen sollte.
„Diese Freundin von ihr …“
„Ihr Name war
Sintel.“
Kvothe blickte Sam
an und sah, dass Sintel damals auch
unter den Opfern gewesen war. „Tut mir Leid.“, sagte er leise, aber Sam
erwiderte nichts.
„Wie hast du damals
überlebt?“, fragte er, leise und unsicher, ob Sam ihm die Frage übel nehmen
würde, aber der antwortete ganz normal.
„Ragnar hat
beschlossen, einen am Leben zu lassen – mich am Leben zu lassen. Nicht, weil er
Informationen wollte; die hätte er sofort genommen, aber dann hätte er nicht
mich gewählt. Er wusste, dass er mich nie zum Reden bringen würde, aber er
brauchte ein Exempel. Jemanden, den er in all den Hetzkampagnen gegen Aum, in
all dem Hass, den er gegen uns in der Bevölkerung schürte, als Sündenbock
hinstellen konnte, damit die Leute ein Gesicht bekamen. Wer war da besser als
der Oberste? Jemand, der in die Geheimnisse eingeweiht und an allen
Entscheidungen beteiligt war – aber niemand, an den man Magier oder gar Kreast
verschwenden musste. Einfache Fesseln genügen.“
Sam klang bitter,
die Stirn gerunzelt und Wut in der Stimme, und Kvothe begriff, dass Sam auf
sich selbst wütend war. Wütend, dass er nichts hatte tun können – und
vielleicht auch wütend, dass er nur ein Mensch war. Wütend, dass er nichts
unternehmen konnte, als Ragnar alle abschlachtete, die Sam zu beschützen
geschworen hatte.
„Diese Schwerter
…“, Kvothe beobachtete Sam genau, versuchte, in dem kantigen, harten Gesicht zu
lesen. „Was macht die so besonders? Warum will Ragnar die haben, und warum
kannst du mit ihnen Ragnars Unverletzlichkeit bekämpfen? Was sind das für
Schwerter?“
Noch während er
diese Frage stellte, wusste Kvothe, dass Sam nicht antworten würde. „Die
Runenkrankheit, von der viele Magier befallen werden.“, sagte Sam und blickte
Kvothe an, um zu sehen, ob der wusste, wovon er sprach. Kvothe nickte
vorsichtig. „Damit hängt es zusammen. Die Details sollte Janne auch hören und
vor allem nicht hier. Das sind Dinge, die niemand hören sollte, außer euch.
Nicht einmal alle Magier und TotenRitter wussten davon – nur wenige. Sehr, sehr
wenige. Und erst recht niemand, der nicht Teil von Aum war.“
Aber Aum gibt es nicht mehr, dachte Kvothe. Fort. Eure Regeln gibt es nicht mehr, und du
bist der Einzige, der entscheiden kann, was ein Geheimnis ist.
Der Feuerspucker
beendete seine Aufführung mit einem besonders spektakulären Feuerball, in dem
Drachen sich wanden und selbst Feuer spien, über die Köpfe der Zuschauer
hinweg. „Lass sie schlafen.“, sagte Sam leise und nahm Janne vorsichtig auf den
Rücken. Sie warteten geduldig, bis der Feuerspucker die wenigen Münzen, die die
Leute ihm geben mochten, eingesammelt hatte, und noch ein wenig länger, bis sie
sich zerstreuten, und gingen zu ihm. Noch außer Hörweite hob er den Kopf, sah
sich um und sah sie – erst nur oberflächlich, runzelte dann die Stirn und
winkte ihnen zu.
Kvothe, wisperte der Mann und lächelte, wohl
wissend, dass sein über die Entfernung zu leise gewispertes Wort durch den Wind
in Kvothes Ohren gelangte. Hallo.