Finn saß sehr, sehr lange alleine
in der Taverne, während ihre Arme taub wurden und die Schultern schmerzten auf
dem unbequemen Holzstuhl, aber niemand ließ sich erweichen, und die Wirtin
ignorierte alle von Finns Bitten.
Sie wusste, warum niemand hier
war. Sie suchten einen Weg, den angerichteten Schaden (und damit meinten sie
das Werwolfgift in Serafins Körper, meinten sie die voreilige magische Heilung,
die Finn nur in allem, was sie von Magie hielt, Recht gab) wieder gutzumachen.
Egal, ob Serafin ihnen versicherte, sie sei nicht vergiftet, sondern völlig
normal. Sie merkte, dass sie, egal, was man als normal definierte, anders war.
„Du kannst nicht zwei Seiten wählen, Finn. Wir oder die Wölfe.“
Sie spürte, dass Sairon damit
Recht gehabt hatte. Dachte an den Ritter. Wenn
der den Wolf auch gesehen hätte, wäre das nicht passiert. Wenn der Herr
Leichtsinn nicht von den Einheimischen getötet worden wäre, wenn der nicht
immer zur vordersten Linie gerannt wäre, dann wäre das nicht passiert.
Und dachte an all das, was sich
verändert hatte. Neue Gerüche, die sie sich vorher nicht einmal hatte
vorstellen können und die ihr eine völlig neue Welt eröffneten. Diese
Leichtigkeit in den Gedanken. Es war so … seltsam anders.
Letzten Endes dachte Finn lange,
lange nach. Und meistens daran, was Aya, wenn sie sie endlich gefunden hatte,
wohl davon halten möge.
(„Finn, ich habe nichts dagegen, wenn du den einfachen Ausweg nimmst.
Wenn du, anstatt zu kämpfen, wegläufst. Wirklich nicht. Aber dann tu es nicht
deswegen, weil du einfach nur Angst vor Veränderungen hast. Das ist nämlich
wahrhaft feige.“)
Finn dachte lange darüber nach,
ob es ihr wirklich nichts ausmachte, selbst von Aya feige genannt zu werden.
„Finn!“, rief Eorindiel, völlig
unelbenhaft aufgelöst in die Taverne rennend. „Wir … wir haben einen
Gegenzauber hingekriegt! Bitte, du musst ihn nehmen!“
Finn nickte, und sei es nur, um
von den Fesseln befreit zu werden. Denn obwohl sie völlig waffenlos war, dachte das ihr anvertraute Prinzesschen
erneut viel zu naiv.
„Wie willst du mich dazu zwingen,
diesen Gegenzauber zu nehmen?“, fragte sie leise, mitten auf der Straße, im
Rücken die Taverne quer über die Wiese, vor sich das Zelt des Zauberers, der
den Gegenzauber fabriziert hatte und wartete. „Wie willst du mich zwingen? Mich
schlagen und dorthin schleifen? Mich festhalten – und dann? Wie willst du mich
zwingen, diesen Zaubertrank zu trinken?“
Und auf Eos Gesicht sah Finn,
dass das Prinzesschen darauf keine Antwort wusste. Stattdessen traten ihr schon
wieder Tränen auf das Gesicht, und jene, die Finn noch ihre Freunde nannte,
standen vor ihr und warteten. Mit flehenden Blicken. Sairon trat vor, und
obwohl er zu Eorindiel flüsterte, verstand Finn ihn so klar und deutlich, als
hätte er es laut gesagt. „Lass mich mal unter vier Augen mit ihr reden.“
Die anderen blieben zurück,
während er sie an der Schulter nahm und ein paar Schritte wegführte. Es fühlte
sich an, als würde sie an die Leine genommen, drum schüttelte sie seine Hand ab
und bereute es bei dem traurigen Blick, den er aufsetzte.
„Finn, bitte.“, begann er,
wirklich flehend. „Ich weiß, wir können dich nicht zwingen. Aber du musst dich
entscheiden. Du kannst nicht beides sein, denn dann bist du weder Mensch noch
Werwolf, gehörst zu keinem von beiden. Du musst eines verlieren.“
„Und warum sollte ich mich nicht
gegen euch entscheiden?“, fragte sie wütend. „Gegen die, die mich
niederknüppeln?!“
„Und warum solltest du dich für
etwas entscheiden, was dich erst mit Klauen und Zähnen immer wieder verletzt
und dann fast auffrisst?“, pariert Sairon ruhig. „Ich kann den Werwolf zwar
nicht sehen, aber wie deine Schulter zerrissen wurde, das habe ich gesehen, und
ich hab dich schreien hören. Kannst du dich denn nicht mehr an diese Schmerzen
erinnern? Weißt du, wie deine Schulter aussah? Selbst mit magischer Heilung
sind da immer noch dicke Narben, Finn. Warum solltest du dich für etwas
entscheiden, das dir solche Schmerzen zugefügt hat?“
Sie biss sich auf ihrer
Unterlippe herum, denn sie erinnerte sich. Und trotz der magischen Heilung
schmerzte ihre Schulter immer noch. Sie erinnerte sich an die spitzen Zähne,
die ihr das Fleisch von den Knochen rissen. Schmerzen, solche Schmerzen.
„Ich weiß das noch sehr gut.“,
wisperte sie. „Und wenn ich jetzt diesen Trank trinke und der wirkt, dann wird
das erneut passieren! Dann werden die Wölfe mich nicht mehr als einen Freund sehen,
werden mich wieder wegstoßen – so wie ihr jetzt! – und mich wieder angreifen!
Und ich habe keinen Mitkämpfer mehr, der ihn ebenfalls sehen und kämpfen kann!“
Tränen traten ihr in die Augen,
aber Sairon lächelte, lachte fast, aber seine Stimme klang sanft.
„So ist das also.“, sagte er
leise. „Du hast Angst, Finn. Einfach Angst, hm?“
Und sie blickte zu Boden, weil
sie darauf nichts erwidern konnte.
„Finn. Ich hab dich kämpfen
sehen. Du kannst verdammt gut kämpfen, du bist mutig, du bist witzig. Die Wölfe
waren auch vorher deine Feinde, und du hast dich gegen sie behauptet. Und wir
sehen ihn zwar nicht, aber wenn wir zusammenarbeiten, können wir dir helfen,
Finn. Du brauchst keine Angst haben.“
Sie sagte nichts, weil sie
wusste, dass er Recht hatte. Sie hatte nur Angst … und noch etwas, aber das
würde niemand von ihnen verstehen. Dieser kleine Teil, der diese neue Welt
liebte. Der die Wölfe liebte, ihren neuen Geruchssinn, die Leichtigkeit, die
sich in ihre Gedanken schlich, die Ahnung vom Geruch der Freiheit. Das wollte
sie nicht aufgeben.
Frustriert trat sie nach einer
Pflanze am Wegesrand und beobachtete, wie alte Blütenblätter davonstoben. Sah
das Prinzesschen an, Eorindiel, die genau wie die anderen die Unterhaltung aus
etwas Entfernung beobachtete und Finn mit tränengefüllten Augen wie ein krankes
Eichhörnchen anblickte.
„Für drei Goldstücke.“, sagte
Serafin und meinte es genauso. „Für drei Goldstücke, Eorindiel, trinke ich das
Zeug.“
Die Elbenprinzessin hätte ihr in
diesem Moment alles versprochen, aber nicht nur sie war sprachlos.
„Geld?“, fragte Sairon ungläubig.
„Für Geld? Wie geldgeil bist du eigentlich?“
Lachte kurz auf, aber trotzdem
schwappte Erleichterung durch sie alle wie eine Windböe, und Eorindiel nickte
hektisch. „Alles, wirklich alles! Ich schwöre, Finn, für drei Goldstücke!“
„Schwöre es auf den, den du
suchst.“, wisperte Finn, die Elbin nicht aus den Augen lassend, und der liefen
Tränen aus ungläubigen, aber unglaublich erleichterten Augen über die Wangen,
als sie nickte. „Ich schwöre es auf den, den ich suche, schwöre es auf den, den
ich liebe, dass ich dir drei Goldstücke gebe.“, sagte sie. Und das reichte
Finn. Eine Anzahlung heute, morgen mehr, nach und nach, das würde reichen.
Hauptsache, sie besaß den Anspruch.
„Für Geld.“, schnaubte der Ritter
kopfschüttelnd. „Serafin, ich hätte nicht gedacht, dass du tatsächlich so
geldgierig bist.“
Serafin schwieg.
„Geld bedeutet Sicherheit.“, erklärt sie Aya, im Schein des Feuers gut
abgeschottet ihr Kupfer putzend, damit es glänzte und ordentlich aussah. „Wer
Geld hat, kann fast alles bezahlen – Essen. Unterkunft. Medizin. Bücher.
Bildung. Informationen. Geld heißt Macht und Sicherheit. Sicher, man kann nicht
alles damit kaufen – Liebe zum Beispiel. Aber zum nackten Überleben ist nun
einmal Geld die Nummer eins, und deshalb bedeutet viel Geld auch gesichertes
Überleben.“
Geld bedeutet Sicherheit, dachte sie, während der Zauberer ihr den
Becher mit einer widerlich riechenden Flüssigkeit gab. Denk daran, Finn. Drei Gold. Sicherheit.
„Keine Angst, Finn. Alles wird gut.“